Die Chirurgin
sein. Ein Teil dessen, was ihn auf Touren bringt. Den Doktor spielen, das ist seine Fantasie. Er hat ihr erzählt, er würde ihr das Organ herausschneiden, das befleckt sei. Er wusste, dass sie ein Vergewaltigungsopfer war. Und was hat er herausgeschnitten? Er hat sich zielsicher an die Gebärmutter herangemacht.«
Rizzoli starrte in die Kabine. Leise sagte sie: »Ich kann mir noch einen anderen Grund vorstellen, weshalb er diese Maske trug.«
»Und der wäre?«
»Er wollte nicht, dass sie sein Gesicht sah. Er wollte verhindern, dass sie ihn identifizierte.«
»Aber das würde ja heißen …«
»Das sage ich doch schon die ganze Zeit.« Rizzoli drehte sich um und sah Moore in die Augen. »Der Chirurg hat Nina Peyton mit voller Absicht am Leben gelassen.«
Wie wenig wir doch tatsächlich in das menschliche Herz hineinsehen können, dachte Catherine, während sie die Röntgenaufnahme von Nina Peytons Brust betrachtete. Sie stand im Halbdunkel vor dem Lichtkasten mit dem daran befestigten Röntgenbild und studierte die Schatten der Knochen und Organe. Den Brustkorb, das Trampolin des Zwerchfells, und, auf diesem ruhend, das Herz. Nicht der Sitz der Seele, sondern bloß eine Pumpe aus Muskelgewebe, der ebenso wenig mythische Qualitäten anhafteten wie den Lungen oder den Nieren. Und doch konnte selbst Catherine, die mit beiden Füßen so fest auf dem Boden der Wissenschaft stand, Nina Peytons Herz nicht anschauen, ohne von der symbolischen Wirkung dieses Anblicks berührt zu sein.
Es war das Herz einer Überlebenden.
Aus dem Nebenzimmer hörte sie Stimmen. Es war Peter, der die Röntgenassistentin nach den Aufnahmen eines Patienten fragte. Kurz darauf trat er in den Leseraum und hielt inne, als er sie vor dem Leuchtkasten stehen sah.
»Immer noch hier?«, fragte er.
»Genau wie du.«
»Aber ich habe schließlich heute Abend Bereitschaft. Warum gehst du nicht nach Hause?«
Catherine wandte sich wieder Ninas Röntgenaufnahme zu. »Ich will zuerst sicher sein, dass diese Patientin stabil ist.«
Er kam näher und stellte sich direkt neben sie; so stattlich, so hünenhaft, dass sie dem Impuls widerstehen musste, zur Seite zu treten. Er betrachtete die Aufnahme.
»Abgesehen von einer gewissen Atelektase kann ich hier nichts allzu Besorgniserregendes erkennen.« Sein Blick fiel auf den Vermerk Unbekannte Patientin in der Ecke des Bildes. »Ist das die Frau von Bett zwölf? Die immer von einem Schwarm Polizisten umgeben ist?«
»Ja.«
»Wie ich sehe, hast du sie extubiert.«
»Vor ein paar Stunden«, antwortete sie ausweichend. Sie hatte nicht die Absicht, sich mit ihm über Nina Peyton zu unterhalten, ihn gar über ihren persönlichen Bezug zu diesem Fall aufzuklären. Doch Peter fragte weiter.
»Ihre Blutgase sind in Ordnung?«
»Sie sind zufrieden stellend.«
»Und ansonsten ist sie stabil?«
»Ja.«
»Warum gehst du dann nicht nach Hause? Ich springe für dich ein.«
»Ich möchte diese Patientin selbst im Auge behalten.«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Seit wann traust du deinem eigenen Partner nicht mehr?«
Bei seiner Berührung erstarrte sie augenblicklich. Er spürte es und zog seine Hand zurück.
Nach kurzem Schweigen rückte Peter von ihr ab und begann seine Röntgenaufnahmen mit knappen, heftigen Bewegungen an den Leuchtkasten zu hängen. Er hatte eine Serie von CT-Aufnahmen eines Abdomens mitgebracht, die eine ganze Reihe von Clips beanspruchten. Als er sie alle aufgehängt hatte, blieb er reglos davor stehen. Die Spiegelung der Röntgenaufnahmen in seinen Brillengläsern verdeckte seine Augen.
»Ich bin nicht der Feind, Catherine«, sagte er leise, ohne sie anzusehen, den Blick fest auf den Leuchtkasten geheftet. »Ich wünschte, ich könnte dich davon überzeugen. Ich denke die ganze Zeit, dass ich irgendetwas getan oder gesagt habe, was alles zwischen uns verändert hat.« Endlich sah er sie doch an. »Wir haben uns immer aufeinander verlassen. Zumindest als Partner in der Klinik. Mein Gott, vor ein paar Tagen haben wir im Brustkorb dieses Mannes praktisch Händchen gehalten! Und jetzt willst du nicht einmal, dass ich eine einzige Patientin für die Nacht übernehme. Kennst du mich denn inzwischen nicht gut genug, um mir vertrauen zu können?«
»Es gibt keinen Chirurgen, dem ich mehr vertraue als dir.«
»Dann möchte ich bloß wissen, was hier eigentlich vor sich geht. Ich komme morgens zur Arbeit und stelle fest, dass bei uns eingebrochen wurde. Und du willst mir
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