Die Chirurgin
werden mit dem Boot an einen anderen Ort reisen. In eine andere Zeit. Sie haben alles noch immer unter Kontrolle. Sie sehen Nebel aus dem Wasser aufsteigen, einen warmen, sanften Nebel, der sich angenehm anfühlt auf Ihrem Gesicht. Das Boot gleitet in den Nebel hinein. Sie strecken die Hand aus und berühren das Wasser, und es ist wie Seide. So warm, so still. Jetzt beginnt der Nebel sich zu lichten, und direkt vor sich erblicken Sie ein Gebäude am Ufer des Sees. Ein Gebäude mit einer einzigen Tür.«
Moore merkte, dass er näher an das Fenster herangerückt war. Seine Hände hatten sich verkrampft, sein Puls wurde schneller.
»Das Boot bringt Sie ans Ufer, und Sie steigen aus. Sie gehen den Fußweg zu dem Haus hoch und öffnen die Tür. Drinnen ist nur ein einziges Zimmer. Der Fußboden ist mit einem tiefen, weichen Teppich bedeckt, und in der Mitte steht ein Sessel. Sie setzen sich in den Sessel; es ist der bequemste Sessel, in dem Sie je Platz genommen haben. Sie fühlen sich vollkommen sicher und entspannt. Und Sie haben alles unter Kontrolle.«
Catherine stieß einen tiefen Seufzer aus, als habe sie es sich eben auf weichen Kissen bequem gemacht.
»Jetzt blicken Sie auf die Wand vor Ihnen, und Sie sehen eine Kinoleinwand. Es ist eine magische Leinwand, denn sie kann Szenen aus jedem Abschnitt Ihres Lebens abspielen. Sie kann so weit zurückgehen, wie Sie wollen. Sie haben die Kontrolle. Sie können den Film vorwärts oder rückwärts laufen lassen. Sie können ihn in einem bestimmten Moment anhalten. Es liegt nur an Ihnen. Jetzt wollen wir es einmal versuchen. Gehen wir in eine glückliche Zeit zurück. Eine Zeit, als Sie in der Hütte Ihrer Großeltern am See zu Besuch waren. Sie pflücken Himbeeren. Können Sie es auf der Leinwand sehen?«
Es dauerte lange, bis Catherines Antwort kam. Als sie endlich sprach, war ihre Stimme so leise, dass Moore sie kaum verstehen konnte.
»Ja. Ich sehe es.«
»Was machen Sie gerade? Auf der Leinwand?«, fragte Polochek.
»Ich habe eine Papiertüte in der Hand. Ich pflücke Beeren und sammle sie in der Tüte.«
»Und essen Sie auch welche beim Pflücken?«
Ein Lächeln auf ihrem Gesicht, sanft und verträumt. »O ja. Sie sind süß. Und warm von der Sonne.«
Moore runzelte die Stirn. Das war eine unerwartete Entwicklung. Sie hatte Geschmacks- und Tastempfindungen, was bedeutete, dass sie den Augenblick noch einmal erlebte. Sie betrachtete die Szene nicht nur auf der Kinoleinwand, sie war in der Szene. Er sah, dass Polochek einen besorgten Blick in Richtung Fenster warf. Er hatte die Methode mit der imaginären Kinoleinwand als Mittel einsetzen wollen, um eine Distanz zwischen ihr und dem traumatischen Erlebnis herzustellen. Aber sie war überhaupt nicht distanziert. Jetzt zögerte Polochek und überlegte, was er als Nächstes tun sollte.
»Catherine«, sagte er, »ich möchte, dass Sie sich auf das Kissen konzentrieren, auf dem Sie sitzen. Sie sitzen in diesem Zimmer auf dem Sessel und schauen auf die Leinwand. Fühlen Sie, wie weich das Kissen ist. Wie der Sessel sich an Ihren Rücken schmiegt. Spüren Sie das?«
Eine Pause. »Ja.«
»Okay. Okay, also Sie bleiben in diesem Sessel sitzen. Sie werden sich nicht von der Stelle rühren. Und wir werden die magische Leinwand benutzen, um uns eine andere Szene aus Ihrem Leben anzusehen. Sie werden immer noch in diesem Sessel sitzen. Sie werden immer noch das weiche Kissen in Ihrem Rücken spüren. Und was Sie sehen werden, ist nichts als ein Film auf der Leinwand. Alles klar?«
»Alles klar.«
»Also gut.« Polochek holte tief Luft. »Wir gehen jetzt zurück zum Abend des fünfzehnten Juni, damals in Savannah. Zu dem Abend, als Andrew Capra an Ihre Tür klopfte. Erzählen Sie mir, was auf der Leinwand passiert.«
Moore sah gebannt zu, er wagte kaum zu atmen.
»Er steht vor meiner Haustür«, sagte Catherine. »Er sagt, er müsse mit mir reden.«
»Worüber?«
»Über die Fehler, die er gemacht hat. Im Krankenhaus.«
Was sie dann sagte, wich nicht von der Aussage ab, die sie vor Detective Singer in Savannah gemacht hatte. Widerstrebend hatte sie Capra in ihre Wohnung gebeten. Es war ein schwüler Abend, und er sagte, er sei durstig. Also bot sie ihm ein Bier an. Sie machte auch eins für sich selbst auf. Er war erregt, er machte sich Gedanken um seine Zukunft. Ja, er hatte Fehler gemacht. Aber machte nicht jeder Arzt Fehler? Es wäre eine Verschwendung von Talent, wenn man ihn aus dem Programm ausschlösse. Er
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