Die Chirurgin
höchstwahrscheinlich?«
»Wenn ich nicht mehr so angestrengt nachdenke. Wenn ich mich entspanne und an etwas anderes denke. Oder wenn ich im Bett liege und kurz vor dem Einschlafen bin.«
»Ganz genau. Es passiert, wenn Sie sich entspannen, wenn ihr Gehirn aufhört, wie wild an der Aktenschublade zu rütteln. Dann öffnet sie sich mit einem Mal wie durch Zauberhand, und die Akte springt heraus. Lässt Ihnen dieses Beispiel das Konzept der Hypnose etwas plausibler erscheinen?«
Sie nickte.
»Nun, genau das werden wir tun. Wir werden Ihnen helfen, sich zu entspannen. Und Ihnen den Zugang zu diesem Aktenschrank ermöglichen.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich mich gründlich genug entspannen kann.«
»Liegt es an diesem Zimmer? An dem Stuhl?«
»Der Stuhl ist in Ordnung. Es …« Sie warf einen nervösen Blick auf die Videokamera. »Es ist das Publikum.«
»Detective Moore und Detective Rizzoli werden den Raum verlassen. Und was die Kamera betrifft, die ist bloß irgendein Gegenstand. Ein Apparat. Betrachten Sie sie in dieser Weise.«
»Ich nehme an …«
»Haben Sie noch andere Bedenken?«
Es entstand eine Pause. Dann sagte sie leise: »Ich habe Angst.«
»Vor mir?«
»Nein. Vor der Erinnerung. Davor, sie noch einmal zu durchleben.«
»Ich würde Sie niemals dazu zwingen. Detective Moore hat mir gesagt, dass es sich um ein traumatisches Erlebnis handelt, und wir werden Sie die Erfahrung nicht noch einmal durchleben lassen. Wir werden anders an die Sache herangehen. Die Angst soll die Erinnerung nicht blockieren.«
»Und woher soll ich wissen, dass es sich um echte Erinnerungen handelt? Und nicht um etwas, was ich mir ausgedacht habe?«
Polochek zögerte. »Das ist ein problematischer Punkt – die Tatsache, dass Ihre Erinnerungen möglicherweise nicht ungetrübt sind. Es ist viel Zeit vergangen. Wir werden einfach mit dem arbeiten müssen, was wir haben. Ich sollte Ihnen an dieser Stelle sagen, dass ich nur sehr wenig über Ihren Fall weiß. Ich versuche, vorher nicht zu viel in Erfahrung zu bringen, um der Gefahr zu entgehen, Ihren Erinnerungsprozess zu beeinflussen. Alles, was man mir gesagt hat, ist, dass das Ereignis vor zwei Jahren stattgefunden hat, dass es sich um einen Überfall auf Sie handelte und dass Sie unter dem Einfluss des Medikaments Rohypnol standen. Davon abgesehen tappe ich völlig im Dunkeln. Demnach werden sämtliche Erinnerungen, die auftauchen, Ihre eigenen sein. Ich bin nur da, um Ihnen zu helfen, diesen Aktenschrank zu öffnen.«
Sie seufzte. »Ich denke, ich bin bereit.«
Polochek wandte sich zu den beiden Detectives um.
Moore nickte, und dann verließen er und Rizzoli den Raum.
Von der anderen Seite der Scheibe aus beobachteten sie, wie Polochek einen Kugelschreiber und einen Notizblock aus seiner Tasche nahm und beides auf den Tisch neben seinem Stuhl legte. Er stellte noch ein paar Fragen. Was sie gewöhnlich mache, um sich zu entspannen. Ob es einen bestimmten Ort gebe, eine bestimmte Erinnerung, den oder die sie als besonders friedlich empfinde.
»Im Sommer, als ich noch ein Kind war«, sagte sie, »da habe ich immer meine Großeltern in New Hampshire besucht. Sie hatten eine Hütte am See.«
»Beschreiben Sie mir die Hütte. In allen Einzelheiten.«
»Es war sehr ruhig dort. Die Hütte war klein und hatte eine große Veranda zum Wasser hin. In der Nähe gab es wilde Himbeeren. Die habe ich immer gepflückt. Und an dem Pfad, der zur Anlegestelle hinunterführte, hatte meine Mutter Taglilien gepflanzt.«
»Sie erinnern sich also an Beeren. An Blumen.«
»Ja. Und an das Wasser. Ich liebe das Wasser. Ich habe dort auf dem Bootssteg gelegen und mich gesonnt.«
»Das ist gut.« Er notierte etwas auf seinem Block und legte den Kugelschreiber hin. »Also. Jetzt wollen wir damit anfangen, dass wir dreimal tief Luft holen. Atmen Sie jedes Mal ganz langsam aus. Gut so. Und jetzt schließen Sie die Augen und konzentrieren sich nur auf meine Stimme.«
Moore sah, wie sich Catherines Augenlider langsam senkten. »Lassen Sie das Band laufen«, sagte er zu Rizzoli.
Sie drückte auf die Aufnahmetaste des Videogeräts, und das Band begann sich zu drehen.
Nebenan war Polochek damit beschäftigt, Catherine in einen Zustand der vollkommenen Entspannung zu versetzen. Er wies sie an, sich zuerst auf ihre Zehen zu konzentrieren und die Anspannung abfließen zu lassen. Jetzt lockerten sich ihre Fußmuskeln, während das Gefühl der Entspannung langsam in ihre Waden
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