Die Chronik der Drachenlanze 1 + 2
und allmählich. Und so sehe ich jedes Lebewesen.«
Raistlins dünne, klauenhafte Hand hielt Tanis’ Arm fest umklammert. Der Halb-Elf schauerte unter der kalten Berührung und wollte seinen Arm wegziehen, aber die goldenen Augen und die kalte Hand waren stärker.
Der Magier lehnte sich nach vorn, seine Augen glühten fiebrig. »Aber ich verfüge jetzt über Macht!« wisperte er. »Par-Salian sagte mir, daß der Tag kommen wird, an dem meine Macht die Welt verändern wird! Ich habe Macht und« – und er gestikulierte – »den Stab des Magus.«
Tanis sah auf und erblickte einen Stab, der gegen den Vallenholzstamm lehnte, in Reichweite von Raistlins Hand. Ein einfacher Holzstab, an dessen Spitze eine helle Kristallkugel, von einer körperlosen goldenen Klaue umklammert, einer Drachenklaue ähnlich, funkelte.
»War es das wert?« fragte Tanis ruhig.
Raistlin starrte ihn an, dann teilten sich seine Lippen zu einem fratzenhaften Grinsen. Er zog seine Hand von Tanis’ Arm fort und steckte seine Arme in die Ärmel seines Gewandes. »Natürlich!« zischte er. »Die Macht ist es, nach der ich so lange suchte – und weitersuchen werde.« Er lehnte sich zurück, und seine schmächtige Figur verschmolz mit den dunklen Schatten, bis Tanis nur noch die goldenen Augen sehen konnte, die im Schein des Feuers glänzten.
»Bier«, sagte Flint. Er räusperte sich und leckte über seine Lippen, als ob er einen schlechten Geschmack im Mund wegwischen wollte. »Wo ist der Kender? Vermutlich hat er die Magd bestohlen ...«
»Hier sind wir«, schrie Tolpan fröhlich. Ein hochgewachsenes, junges rothaariges Mädchen tauchte hinter ihm auf, in den Händen ein Tablett mit Krügen.
Caramon grinste. »Nun, Tanis«, dröhnte er, »rate mal, wer das ist. Du auch, Flint.Wenn du gewinnst, gebe ich eine Runde aus.«
Tanis, der erleichtert war, von Raistlins dunkler Geschichte abgelenkt zu werden, starrte auf das lachende Mädchen. Rotes Haar kräuselte sich um ihr Gesicht, ihre grünen Augen funkelten vor Vergnügen, Sommersprossen verstreuten sich leicht über Nase und Wangen. Tanis schien sich an die Augen zu erinnern, aber mehr fiel ihm nicht ein.
»Ich gebe auf«, sagte er. »Aber es ist auch so, daß sich die Menschen für Elfen so schnell verändern, daß wir sie oft nicht wiedererkennen. Ich bin hundertundzwei Jahre alt, jedoch sehe ich für euch nicht älter aus als dreißig. Und für mich sind diese hundert Jahre wie dreißig Jahre. Diese junge Frau muß ein Kind gewesen sein, als wir aufgebrochen sind.«
»Ich war vierzehn.« Das Mädchen lachte und stellte das Tablett auf den Tisch ab. »Und Caramon pflegte zu sagen, ich wäre so häßlich, daß mein Vater jemanden bezahlen müßte, damit er mich heiratete.«
»Tika!« Flint schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du zahlst die Runde, du alter Hornochse!« Er zeigte auf Caramon.
»Das ist nicht fair!« Der Riese lachte. »Sie hat dir einen Tip gegeben.«
»Nun, er hat sich geirrt«, sagte Tanis lächelnd. »Ich bin auf vielen Straßen gewandert, und du bist eines der hübschesten Mädchen, die ich auf Krynn gesehen habe.«
Tika errötete vor Freude. Dann verdunkelte sich ihr Gesicht. »Übrigens, Tanis« – sie griff in ihre Tasche und holte einen zylinderförmigen Gegenstand hervor –, »dies ist heute für dich angekommen. Unter merkwürdigen Umständen.«
Tanis runzelte die Stirn und nahm den Gegenstand entgegen. Es war ein kleiner Schriftrollenbehälter aus schwarzem, hochpoliertem Holz. Langsam entnahm er ihm ein kleines Stück Pergament und entrollte es. Sein Herz schlug dumpf und schmerzhaft beim Anblick der ausgeprägten schwarzen Handschrift.
»Es ist von Kitiara«, sagte er schließlich. Ihm war bewußt, daß seine Stimme angespannt und unnatürlich klang. »Sie kommt nicht.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Das war’s dann«, sagte Flint. »Der Kreis ist gebrochen, der Eid verworfen. Unglück.« Er schüttelte den Kopf. »Unglück.«
Ritter von Solamnia - Die Gesellschaft des alten Mannes
R aistlin beugte sich vor. Er und Caramon wechselten Blicke, als würden zwischen ihnen Gedanken wortlos ausgetauscht. Es war ein seltener Augenblick, denn nur große persönliche Schwierigkeiten oder Gefahren ließen die enge Blutsverwandtschaft der Zwillinge offensichtlich werden. Kitiara war ihre ältere Halbschwester.
»Kitiara würde ihren Eid nicht brechen, falls sie nicht an einen anderen, stärkeren Eid gebunden ist.« Raistlin sprach aller
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