Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
tun muß, Raistlin«, sagte er. »Du bist wohl mächtig, aber trotzdem mußt du dich auf deine Magie konzentrieren. Und solange du deine Magie gegen mich einsetzt, ist Berem frei von deiner Macht. Du kannst ihn nicht töten.« Caramon hoffte inbrünstig, daß Berem zuhörte und zu gegebener Zeit handelte. »Vermutlich kann das nur deine Dunkle Königin. Also bleibe . . .«
»Du mein lieber Bruder«, sagte Raistlin leise. »Ja, ich kann dich töten . . .«
Er stand auf, hob eine Hand, und bevor Caramon schreien oder seine Arme hochwerfen konnte, leuchtete eine Flammenkugel wie eine Sonne in der Dunkelheit auf. Sie explodierte auf
Caramon und schleuderte ihn nach hinten in das schwarzeWasser.
Versengt und geblendet, gelähmt von der Wucht des Aufschlages, fühlte Caramon, wie er das Bewußtsein verlor, als er in das dunkle Wasser sank. Dann drangen scharfe Zähne in seinen Arm, rissen ihm das Fleisch weg. Der brennende Schmerz brachte seine schwindenden Sinne zurück. Vor Qual und Entsetzen aufschreiend, kämpfte Caramon sich hektisch aus dem tödlichen Strom hoch.
Zitternd stand er auf. Die jungen Drachen, die Blut geschmeckt hatten, griffen ihn an, schlugen in rasender Enttäuschung gegen seine Lederstiefel. Caramon umklammerte seinen Arm und sah kurz zu Berem, der sich zu seiner Bestürzung keinen Zentimeter bewegt hatte.
»Jasla! Ich bin hier! Ich befreie dich!« schrie Berem, aber er stand durch den Zauber wie eingefroren da.Wild schlug er auf die unsichtbare Wand ein, die seinen Weg versperrte.
Raistlin beobachtete gelassen, wie sich sein Bruder vor ihm aufrichtete, das Blut strömte aus seinem aufgerissenen Arm.
»Ich bin mächtig, Caramon«, sagte Raistlin, kalt in die angstvollen Augen seines Zwillingsbruders starrend. »Mit Tanis’ unfreiwilliger Hilfe war ich in der Lage, den Mann auf Krynn loszuwerden, der mich hätte übertreffen können. Jetzt bin ich die mächtigste Kraft der Magie auf dieser Welt. Und ich werde noch mächtiger werden . . . wenn die Dunkle Königin verschwunden ist!«
Caramon sah seinen Bruder benommen an, unfähig zu verstehen. Er hörte Wasser aufklatschen und die triumphierenden Schreie der Drakonier. Zu bestürzt, um sich zu bewegen, konnte er seine Augen nicht von seinem Bruder nehmen. Nur allmählich begann Caramon zu begreifen, als Raistlin seine Hand hob und eine Bewegung in Berems Richtung machte.
Auf diese Handbewegung hin war Berem frei. Er warf erst Caramon und dann den durchs Wasser watenden Drakoniern, deren Krummschwerter im Licht des Stabes aufblitzten, hastig einen Blick zu. Dann sah er zu Raistlin, der in seiner langen
schwarzen Robe auf dem Fels stand. Dann – mit einem freudigen Aufschrei, der durch den Tunnel hallte – sprang Berem auf die mit Juwelen besetzte Säule zu.
»Jasla, ich komme!«
»Vergiß nicht, mein Bruder«, Raistlins Stimme hallte in Caramons Gehirn nach, »dies geschieht, weil ich will, daß es geschieht!«
Als Caramon einen Blick zurückwarf, sah er, wie die Drakonier vor Wut angesichts ihres entkommenen Opfers aufkreischten. Die Drachen rissen an seinen Lederstiefeln, seine Wunden schmerzten unerträglich, aber Caramon bemerkte es nicht. Er sah wieder nach vorn und beobachtete wie im Traum, wie Berem auf die mit Juwelen besetzte Säule zurannte.
Vielleicht waren es seine Fieberfantasien, aber als Berem sich der Juwelensäule näherte, schien der grüne Juwel in seiner Brust heller zu leuchten als Raistlins Flammenkugel. In dem Licht erschien im Innern der Juwelensäule die bleiche, schimmernde Gestalt einer Frau. Sie war in eine einfache Ledertunika gekleidet, auf eine zerbrechliche, anmutige Art hübsch, ihre Augen, zu jung für ihr schmales Gesicht, waren Berems sehr ähnlich.
Dann blieb Berem im Wasser stehen. Einen Moment lang bewegte sich nichts. Die Drakonier standen still, hielten die Schwerter mit ihren Klauenhänden umkrampft. Schwach wurde ihnen klar, obwohl sie es nicht verstanden, daß ihr Schicksal irgendwie auf der Waagschale lag, daß alles von diesem Mann abhing.
Caramon spürte nicht mehr die eisige Luft, auch nicht das Wasser oder den Schmerz seiner Verletzungen. Er spürte keine Angst mehr, keine Verzweiflung, keine Hoffnung. In seinen Augen standen Tränen. Berem stand seiner Schwester gegenüber, seiner Schwester, die er umgebracht hatte, seiner Schwester, die sich selbst geopfert hatte, damit er – und die Welt – Hoffnung haben konnte. Im Licht von Raistlins Stab sah Caramon das blasse, gramverzerrte
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