Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
gekommen sind?«
»Tika! Tolpan!« keuchte Caramon. Sich an den nassen Steinen festhaltend, zog er sich hoch. »Und Tanis! Was ist . . .«
»Tanis kommt allein zurecht. Ich habe ihm meine Schuld zehnfach bezahlt«, sagte Raistlin. »Aber vielleicht kann ich meine Schulden bei anderen begleichen.«
Schreie ertönten am Ende des Tunnels, eine dunkle Masse von Soldaten sprang in das dunkle Wasser, den letzten Befehlen ihrer Königin gehorchend.
Erschöpft legte Caramon seine Hand an den Knauf seines Schwertes, aber eine Berührung der kalten, knochigen Finger seines Bruders hielt ihn zurück.
»Nein, Caramon«, flüsterte Raistlin. Seine schmalen Lippen teilten sich zu einem grimmigen Lächeln. »Ich brauche dich jetzt nicht. Ich brauche niemanden mehr . . . niemals. Paß auf!«
Sofort erhellte sich die unterirdische dunkle Höhle in einer taggleichen Brillanz durch die ungestüme Macht von Raistlins Magie. Caramon mit dem Schwert in der Hand konnte nur neben seinem schwarzgekleideten Bruder stehen und ehrfürchtig zusehen, wie unter Raistlins Zaubersprüchen ein Feind nach dem anderen niederstürzte. Blitze zischten aus seinen Fingerspitzen, Flammen flackerten aus seinen Händen, Trugbilder tauchten auf – so grauenvoll real, daß jene, die sie sahen, an ihrer Furcht starben.
Goblins fielen schreiend, durchbohrt von den Lanzen einer Ritterlegion, die die Höhle auf Raistlins Befehl mit ihren Schlachtgesängen füllte, dann verschwand sie wieder auf sein Kommando. Die jungen Drachen flohen vor Entsetzen zu ihren dunklen und geheimen Brutplätzen zurück, Drakonier zerfielen in den Flammen. Dunkle Kleriker, die die Stufen auf den letzten Wunsch ihrer Königin hinunterschwärmten, wurden an
einer Reihe schimmernder Speere aufgespießt, ihre letzten Gebete wurden zu wimmernden, qualvollen Verfluchungen.
Schließlich kamen die Schwarzen Roben, die Ältesten des Ordens, um diesen jungen Emporkömmling zu vernichten. Aber zu ihrem Entsetzen erkannten sie, daß sie zwar alt waren, aber Raistlin auf geheimnisvolle Weise noch älter war. Seine Macht war gewaltig; sie sahen, daß er nicht zu besiegen war. Die Luft war von Gesängen erfüllt, als einer nach dem anderen so schnell verschwand, wie er gekommen war – viele verbeugten sich vor Raistlin in tiefem Respekt, bevor sie auf den Flügeln von Wunschzaubern weggetragen wurden.
Und dann war es still. Nur das Wasser schlug träge gegen die Steine.Alle paar Sekunden erschütterte ein Beben den Tempel und ließ Caramon beunruhigt nach oben starren. Die Schlacht hatte offenbar nur wenige Momente gedauert, obwohl es Caramon schien, als ob er und sein Bruder ihr ganzes Leben lang an diesem entsetzlichen Ort gewesen wären.
Als der letzte Magier mit der Schwärze verschmolz, wandte sich Raistlin seinem Bruder zu.
»Siehst du, Caramon?« fragte er kühl.
Wortlos nickte der Krieger, die Augen weit offen.
Der Boden erbebte, das Wasser schlug heftiger gegen die Steine. Am Ende der Höhle erzitterte die Juwelensäule, dann zerbarst sie. Staub rieselte auf Caramons Gesicht, als er zu der sich auflösenden Decke starrte.
»Was bedeutet das? Was ist los?« fragte er beunruhigt.
»Das ist das Ende«, erklärte Raistlin. Er zog seine schwarze Robe enger um seinen Leib und blickte Caramon gereizt an. »Wir müssen diesen Ort verlassen. Bist du stark genug?«
»Ja, gib mir einen Moment«, knurrte Caramon. Er schob sich von den Steinen weg, trat einen Schritt nach vorn, taumelte und wäre beinahe gestürzt.
»Ich bin schwächer, als ich dachte«, murmelte er und tastete nach seiner Wunde. »Laß mich nur ...Atem holen.« Er richtete sich auf, seine Lippen waren weiß, Schweiß lief über sein Gesicht, als er einen weiteren Schritt nach vorn wagte.
Grimmig lächelnd beobachtete Raistlin, wie sein Bruder zu ihm stolperte. Dann streckte der Magier seine Arme aus.
»Lehn dich an mich, mein Bruder«, sagte er leise.
Die riesige gewölbte Decke in der Empfangshalle zerbrach. Große Steinblöcke schmetterten herab, zermalmten alles, was nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Das Chaos in der Halle verwandelte sich umgehend in eine Schreckenspanik. Die strengen Befehle und die Peitschen ihrer Anführer mißachtend, kämpften die Drakonier um Leib und Leben, schlachteten brutal jeden ab, auch ihre eigenen Kameraden, der ihnen in die Quere kam. Gelegentlich schaffte es ein sehr mächtiger Drachenfürst, seine Leibwache unter Kontrolle zu halten und zu fliehen. Aber die meisten
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