Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
verhielt plötzlich taumelnd. Er hob seinen Blick zu den glänzenden goldenen Augen des Magiers, der über ihm auf einem Felsvorsprung stand. Wimmernd, die Hände ringend, starrte Berem sehnsüchtig auf die mit Juwelen besetzte Säule. Aber er konnte sich nicht bewegen. Eine große und furchtbare Macht versperrte seinen Weg, die so wirklich war wie der Magier auf dem Fels.
Caramon blinzelte seine Tränen weg. Er spürte die Macht seines Bruders, er kämpfte gegen die Verzweiflung an. Er konnte nichts ausrichten . . . außer zu versuchen, Raistlin zu töten. Seine Seele zog sich vor Entsetzen zusammen. Nein, lieber würde er sterben!
Plötzlich hob Caramon den Kopf. So soll es sein. Wenn ich sterben muß, dann kämpfend – so wie ich es immer wollte.
Selbst wenn es bedeutet, durch die Hand meines eigenen Bruders zu sterben.
Langsam erwiderte Caramon den Blick seines Bruders.
»Du trägst jetzt die Schwarze Robe?« fragte er mit spröden Lippen. »Ich kann nichts sehen ... in diesem Licht ...«
»Ja, mein Bruder«, erwiderte Raistlin und hob den Stab des Magus, damit das silberne Licht ihn beleuchtete. Eine Robe von weichstem Samt fiel über seine dünnen Schultern, schimmerte
schwarz im Licht, wirkte schwärzer als die ewige Nacht, die sie umgab.
Caramon fuhr fort, obwohl er innerlich erzitterte. »Und deine Stimme, sie ist kräftiger, anders. Wie deine . . . und doch nicht wie deine . . .«
»Das ist eine lange Geschichte, Caramon«, erwiderte Raistlin. »Im Lauf der Zeit wirst du sie vielleicht erfahren. Aber jetzt befindest du dich in einer üblen Situation, mein Bruder. Die Drakonierwachen kommen. Sie haben den Befehl, Berem zu fangen und zur Dunklen Königin zu bringen. Das wird sein Ende sein. Er ist nicht unsterblich, das versichere ich dir. Sie verfügt über Zaubersprüche, die seinen Körper zerfallen lassen und nicht mehr von ihm übrig lassen als dünne Fäden von Fleisch und Seele, die vom Wind davongetragen werden. Dann wird sie seine Schwester verschlingen, und dann, endlich, wird die Dunkle Königin frei sein, um Krynn in ihrer vollen Macht und Herrlichkeit zu betreten. Sie wird die Welt beherrschen und alle Bereiche des Himmels und der Hölle. Nichts wird sie aufhalten.«
»Ich verstehe nicht . . .«
»Nein, natürlich nicht, lieber Bruder«, sagte Raistlin mit einer Spur der alten Verärgerung und des Sarkasmus. »Du stehst neben Berem, dem einzigen Lebewesen auf ganz Krynn, der diesen Krieg beenden und die Königin der Finsternis in ihr Schattenreich zurücktreiben kann. Und du verstehst nichts.«
Raistlin trat näher zum Rand des Felsvorsprungs und bückte sich. Er deutete seinem Bruder an, näherzukommen. Caramon zitterte, unfähig, sich zu bewegen, fürchtend, daß Raistlin einen Zauber auf ihn werfen könnte. Aber sein Bruder musterte ihn nur aufmerksam.
»Berem braucht nur noch ein paar Schritte zu gehen, mein Bruder, und er wird wieder mit seiner Schwester vereint sein, die in all diesen Jahren des Wartens auf seine Rückkehr, um von ihrer selbstauferlegten Folter erlöst zu werden, unaussprechliche Qualen erlitten hat.«
»Und was würde dann geschehen?« stammelte Caramon, die
Augen seines Bruders hielten ihn mit einer einfachen Macht fest, die stärker war als jede Magie.
Die goldenen Stundenglasaugen verengten sich, Raistlins Stimme wurde leise. Nicht mehr zum Flüstern gezwungen, fand der Magier das Wispern dennoch unwiderstehlich.
»Der Keil wird entfernt, mein lieber Bruder, und die Tür wird zugeschlagen. Die Dunkle Königin wird heulend vor Wut in den Tiefen der Hölle zurückgelassen.« Raistlin hob seinen Blick und machte mit seiner blassen, schlanken Hand eine Geste. »Dies hier . . . der wiedergeborene Tempel von Istar, vom Bösen entstellt und verdorben . . . wird untergehen.«
Caramon keuchte, dann verhärtete sich sein Gesicht zu einem finsteren Ausdruck.
»Nein, ich lüge nicht.« Raistlin antwortete auf die Gedanken seines Bruders. »Das heißt nicht, daß ich nicht lügen kann, wenn es meinen Zielen nützlich ist. Aber du weißt, lieber Bruder, daß wir immer noch eng verbunden sind, so daß ich dich nicht anlügen kann. Und außerdem habe ich keinen Grund zu lügen – es ist meinen Zielen nützlich, wenn du die Wahrheit kennst.«
Caramon war verwirrt. Er verstand überhaupt nichts. Aber er hatte keine Zeit, zu grübeln. Hinter ihm hallte das Echo der Geräusche der Drakonierwachen. Seine Miene wurde ruhig und entschlossen.
»Dann weißt du, was ich
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