Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
würde hier den restlichen Nachmittag sitzen und die Ansprachen ertragen müssen, die ihre Heldentaten priesen. Sie wünschte sich nichts mehr, als an einem dunklen, kühlen Ort zu liegen und zu schlafen. Und es waren alles Lügen, alles nur Heuchelei. Wenn sie nun die Wahrheit erfahren würden. Was wäre, wenn sie aufstehen und ihnen erzählen würde, daß sie während der Schlachten so viel Angst hatte, daß sie sich an Einzelheiten nur in ihren Alpträumen erinnern würde?Wenn sie ihnen sagte, daß sie für die Ritter nichts anderes war als eine Spielkarte? Daß sie nur hier war, weil sie aus ihrem Elternhaus weggelaufen war – ein verwöhntes kleines Mädchen, das einem Halb-Elfen nachgerannt war, der sie nicht einmal liebte? Was würden sie dann sagen?
»Und jetzt«, die Stimme des Fürsten von Kalaman übertönte den Lärm der Menge, »ist es mir eine Ehre, euch die Frau vorzustellen, die die entscheidende Wende des Krieges herbeigeführt hat, die Frau, die die Drachenarmee in die Ebenen geschickt hat, sie um ihr Leben rennen ließ, die Frau, die die bösen Drachen vom Himmel vertrieben hat, die Frau, deren Armee den verruchten Bakaris, Kommandant der Armee des Drachenfürsten, gefangengenommen hat, die Frau, deren Name schon jetzt mit dem des legendären Huma verbunden ist, des mutigsten Kriegers auf Krynn. In einer Woche wird sie nach Burg Dargaard reiten, um die Kapitulation der Drachenfürstin, bekannt als die Finstere Herrin, zu fordern...«
Die Stimme des Fürsten erstarb im Jubel. Er hielt inne, dann griff er hinter sich und zerrte Laurana fast nach vorn. »Lauralanthalasa aus dem Königlichen Haus der Qualinesti!«
Der Beifall war ohrenbetäubend. Er hallte von den hohen Steingebäuden wider. Laurana sah auf das Meer geöffneter Münder und die heftig wedelnden Flaggen. Sie wollen nichts von meiner Furcht wissen, begriff Laurana müde. Sie haben selbst genug Furcht. Sie wollen nichts über Finsternis und Tod wissen. Sie wollen Kindermärchen über Liebe und Wiedergeburt und Silberdrachen.
Wollen wir das nicht alle?
Mit einem Seufzer wandte sich Laurana zu Silvara. Sie nahm die Rosen zurück, hielt sie hoch in die Luft und winkte der jubelnden Menge zu. Dann begann sie ihre Ansprache.
Tolpan Barfuß verbrachte eine herrliche Zeit. Es war einfach gewesen, Flints wachsamem Blick zu entgehen und von der Plattform zu schlüpfen, wo er mit den anderen Würdenträgern stand. Er verschmolz mit der Menge und war nun frei, diese interessante Stadt aufs neue zu erforschen. Vor langer Zeit war er mit seinen Eltern in Kalaman gewesen, und er hegte liebevolle Erinnerungen an den Basar, den Hafen, wo die weißgeflügelten Schiffe vor Anker lagen, und an Hunderte andere wundervolle Dinge.
Mit Muße wanderte er durch die fröhliche Menge, seine scharfen Augen sahen alles, seine Hände stopften geschäftig Dinge in seine Beutel. Wirklich, dachte Tolpan, die Leute von Kalaman sind äußerst sorglos! Geldbörsen hatten die unheimliche Angewohnheit, aus den Gürteln der Leute in Tolpans Hände zu fallen. Die Straßen hätten mit Juwelen gepflastert sein können, so wie er Ringe und andere faszinierende Schmuckstücke entdeckte.
Dann wurde der Kender in das Reich des Entzückens befördert, als er zufällig auf die Bude eines Kartographen stieß. Und wie das Schicksal es wollte, war der Kartograph weggegangen, um die Parade zu beobachten. Die Bude war verriegelt, an einem Haken hing ein großes Schild. GESCHLOSSEN.
Wie schade, dachte Tolpan. Aber ich bin mir sicher, es wird ihn nicht stören, wenn ich einen Blick auf seine Karten werfe. Fachmännisch ruckte er an dem Schloß, dann lächelte er glücklich. Noch ein paar Rucke, und es würde sich mühelos öffnen. Bei solch einem primitiven Schloß ist es bestimmt nicht seine Absicht, Leute fernzuhalten. Ich gehe nur schnell hinein und kopiere einige seiner Karten, um meine Sammlung auf den neuesten Stand zu bringen...
Plötzlich spürte Tolpan eine Hand auf seiner Schulter. Wütend, daß jemand ihn gerade jetzt stören wollte, blickte sich der Kender um und sah auf eine seltsame Gestalt, die aber vertraut wirkte. Sie war trotz des warmen Frühlingstages in schwere Umhänge und Gewänder gekleidet. Sogar die Hände waren in Bandagen gewickelt. Ein Kleriker, dachte der Kender verärgert und besorgt.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Tolpan zu dem Kleriker, der ihn fest im Griff hatte. »Ich will ja nicht grob sein, aber ich war gerade...«
»Barfuß?«
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