Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
ein gutes Stück nach unten gesunken und die Bäume lehnten sich jetzt nicht mehr alle ordentlich nach innen, sondern in alle möglichen Richtungen. Manche waren auch nach außen gesunken und würden sich wohl bald mit dem Torfballen, auf dem sie standen, von der Insel lösen. Erich fragte sich, ob der schwimmende Torf wohl stark genug war um den Baum zu tragen, der dann mit der Krone nach unten in den See hängen würde, während seine Wurzeln in die Luft griffen. Und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sich die Insel nach und nach im Wasser auflöste.
Er hielt sich an einem Stamm fest, um nicht auszurutschen, während er sich hinunterbeugte, um mit seiner Hand Wasser aus dem See zu schöpfen. Es war inzwischen wieder klar, hatte aber eine dunkle Färbung und schmeckte beruhigend nach Erde. Als er trank verscheuchte er einen Schwarm kleiner silberner Fische und einige Wasserläufer, aber ansonsten sah er ringsum kein Lebewesen. Wenn es auf dem See tatsächlich Enten gab, mussten sie sich irgendwo verstecken.
Als er aufblickte konnte er vor sich über der Wasserfläche schemenhaft das ferne Ufer des Sees ausmachen, das halb im Dunst des vergangenen Regens verborgen war. Über den Bergen im Süden hingen immer noch bleierne Wolken, aber direkt über ihm und weiter nach Westen begann die dicke Wolkendecke stellenweise aufzubrechen. Sie zeigte ein Muster, das seine Mutter 'Sturmzeichen' genannt hatte, ein untrüglicher Vorbote des Herbstes. Ein frischer Wind strich über das Wasser, kräuselte es sanft und als Erich seinen Durst gestillt hatte, beeilte er sich, seine Hände abzutrocknen, bevor sie vollends kalt wurden.
Dann besann er sich wieder auf seine Aufgabe. Feuerholz zu finden war kein Problem. Wind und Wetter hatten viele dürre Äste heruntergerissen und selbst wenn die nicht gereicht hätten, gab es an den Rändern der Insel eine reiche Auswahl an angeschwemmtem Holz, das sich zwischen den Bäumen verfangen hatte. Erich sah kaum noch grüne Blätter. Das Laub war aber auch noch nicht herbstlich bunt. Schlaff und farblos hing es von den Zweigen herab.
Mit dem herumliegenden Reisig hatte er sein Bündel schnell voll und beschloss am Ufer entlang zurück zum Lager zu gehen, um auf diesem Weg vielleicht Kern zu finden und mehr von der Insel zu sehen.
Er entdeckte den Alten tatsächlich schon bald an einer kleinen Bucht, in die eine der Birken gestürzt war. Wie ein Ruder ragte sie hinaus in den See und Kern schien sich keine Sorgen darüber zu machen, dass sich der Baum nur noch mit einem kleinen Rest des Wurzelballens an die Insel klammerte. Er hockte auf dem Stamm wie auf einem Küchenhocker und schnitt mit einem Messer große Stücke aus einem rohen Fisch, den er gerade gefangen haben musste. In einem seltsamen Singsang schmatzte er lauthals ein abscheuliches Lied vor sich hin: „Ins Gebiss kommt heut' ein Fisch, so saftig frisch!“
Als er Erich bemerkte, kam er wie ein Tier auf allen Vieren mit dem Fisch im Mund auf ihn zu gehüpft und hielt ihn das zerfledderte Tier hin. Erich lehnte dankend ab. Das glibberige mit Schuppen besetzte Stück Fleisch war mehr, als er so früh am Morgen ertragen könnte, selbst wenn dieser Frühstückshappen noch nicht mit Erde und Kerns Speichel besudelt gewesen wäre.
Kern machte sich nichts daraus und schnitt ein weiteres Stück von dem Fisch ab, das er knirschend mitsamt den Gräten hinunterschlang. Erich erstarrte, als er das Messer genauer anschaute.
„ Kern, woher hast du dieses Messer?“
Der Alte legte den Kopf schief und warf einen Blick auf das altertümliche steinerne Ding, das er in der Hand hielt. Es war mit Dreck verschmiert, aber Erich konnte deutlich erkennen, dass es genauso aussah, wie eines der Ritualmesser aus Hornhus. Es sah nicht nur so aus, es war eines der Ritualmesser!
„Hast … hast du es gestohlen? Aus Hornhus?“
Kern sah das Messer ratlos an. „Mein Schatz?“, fragte er, wobei er halb zerkautes Fischfleisch um sich spuckte.
„Nein, Kern, das ist nicht dein Messer. Es ist eines der Ritualmesser aus Hornhus.“
„ Oh. Nicht mein Schatz.“, sagte Kern enttäuscht und hielt Erich das Messer hin. „Dein Schatz! Alles Gute zum Geburtstag!“
„ Äh … danke.“ Zögernd nahm Erich das Messer entgegen und ein kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Ihm war nicht wohl bei der Sache das Ding anzufassen oder auch nur bei sich zu tragen, aber dennoch steckte es unter seinen Gürtel und schulterte sein Bündel neu.
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