Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
»Sharif hat mich nur gebeten, dich wegzubringen. Wohin, hat er nicht gesagt.
Er war wohl der Meinung, du wüsstest es.«
Der letzte Satz war eine dreiste Lüge, doch das konnte Murida nicht wissen. Sie sah ihn ein wenig überrascht, aber ohne das geringste Misstrauen an. Schließlich nickte sie, und ein fast schon verächtliches Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich verstehe. Er glaubt, dass ich dumm genug wäre, dich zum Machdi zu führen, damit du ihn töten kannst.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Andrej.
»Weil er es dir aufgetragen hat?«, schlug Murida vor und schnaubte. »Und sag mir nicht, es wäre nicht sein letzter Wunsch gewesen, dass er stirbt!«
»Macht es dir denn gar nichts aus?«, fragte Andrej. »Was?«
»Dass er jetzt schon tot ist«, antwortete Andrej weit heftiger, als er beabsichtigt hatte. Erst in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, begriff er, dass es ihm etwas ausmachte. Er hatte jeden Grund, Sharif zu verachten, und ganz gewiss würde der Janitscharenhauptmann niemals sein Freund werden, aber er hatte ihm etwas bedeutet. Er wusste nur nicht, was.
»Und dir?«, fragte Murida. »Macht es dir nichts aus, dass dein Freund ebenfalls tot ist?« »Abu Dun kann auf sich aufpassen«, erwiderte er bewusst grob. »Und es war ganz allein seine Entscheidung.«
»Genau wie die Sharifs.« Murida griff nun doch nach der Dattel und begann daran zu knabbern. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen und musste mindestens so hungrig sein wie er. Ihrer Grimasse nach zu schließen, mochte sie Datteln genauso gerne wie er, griff aber trotzdem zu, als er ihr eine zweite anbot. Erst als sie auch diese hinuntergewürgt hatte und eine dritte nahm, fuhr sie fort, als wäre nur ein Lidschlag verstrichen: »Glaub nicht, dass es mir gleichgültig ist. Sharif war immer gut zu mir, vielleicht besser, als ich es verdient hatte. Und bevor du dir die Mühe machst, es auszusprechen: Ich weiß, dass ich ihm mehr schulde, als ich jemals wiedergutmachen kann. Sharif war wie der Vater zu mir, den ich nie hatte.«
»Auch wenn du es mir jetzt wahrscheinlich nicht glauben wirst, aber Sharif –«
»Aber er hat sich entschieden«, redete Murida weiter.
»Wenn ihm der Eid, den er dem Vater dieses Ungeheuers geschworen hat, wichtiger ist als seine Ehre und die Leben seiner Männer, was könnte ich dann noch tun, um ihn umzustimmen?«
Da war ein sachtes Zittern in ihrer Stimme, und ein Ausdruck von Schmerz in ihren Augen, der ihre Worte Lügen strafte, doch er spürte, wie sinnlos jeder Einwand war. Das Kat hatte sie in seiner Gewalt, und gleichgültig, ob sie genug davon hatte, zu viel oder zu wenig, es würde immer stärker sein als ihr Wille.
Er winkte ihr zu. »Komm näher ans Feuer«, sagte er.
»Ganz egal, wie sehr du mich auch hasst, du ärgerst mich nicht, indem du frierst. Es ist kalt, und die Nacht wird noch viel kälter.«
Murida funkelte ihn zornig an. Und kam näher, achtete aber darauf, außerhalb seiner Reichweite zu bleiben, als sie sich mit angezogenen Knien neben dem Feuer niederließ.
»Sharif hätte dir einen wärmeren Mantel mitgeben sollen«, sagte er. »Er sollte eigentlich wissen, wie kalt die Nächte werden.«
Selbstverständlich reagierte sie auch darauf nur mit einem ärgerlichen Blick. Andrej schwieg und wartete darauf, dass die Kälte ihre Wirkung tat. Es geschah auch, aber er musste deutlich länger warten, als er angenommen hatte. Selbst er musste sich beherrschen, um nicht mit den Zähnen zu klappern, als Murida endlich aufgab und noch näher heranrückte. Sie war wirklich sehr willensstark. Oder sehr stur.
»Ich könnte dich zu ihm bringen«, sagte Murida unvermittelt.
»Dem Machdi?«
»Nein, Sultan Süleyman dem Zweiten. Ich bin sicher, er freut sich sehr, uns wiederzusehen, und wird dir eine große Belohnung auszahlen, weil du ihm seine verlorene Tochter zurückgebracht hast. Natürlich dem Machdi! Du wolltest ihn doch kennenlernen, oder?«
»Nicht so. Gibt es einen anderen Ort, an dem du sicher bist? Einen, andern Süleyman dich nicht findet, meine ich?«
»Mir fallen eine ganze Reihe Orte ein, von denen ich sofort wieder fliehen werde, sobald du weg bist«, antwortete Murida. »Warum tust du das, Andrej?« »Was?«
Murida machte eine wedelnde Handbewegung in die Dunkelheit hinein. »Das alles hier, Andrej. Ich weiß nicht, was Sharif dir erzählt hat, oder Süleyman, oder warum du und dein Freund überhaupt hier seid, aber nichts davon spielt noch eine Rolle.
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