Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
einen Kuss auf die Stirn.
Andrej zählte in Gedanken langsam bis fünfzig, bevor er es wagte, die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Murida war verschwunden und hatte nicht nur das Kat und den Großteil der Vorräte mitgenommen, sondern auch das gesamte Wasser. Ihre Spuren führten nach Westen und verloren sich auf dem steinharten Wüstenboden, bevor die Nacht sie auslöschen konnte.
Er machte wieder kehrt und ging nach Osten, und damit tiefer in die Wüste und das Land der Toten hinein, das Murida doch angeblich gar nicht kannte.
Als er einmal glaubte, ihre Spur verloren zu haben, zeigte sich das Schicksal ausnahmsweise einmal gnädig: Der Wind legte sich und machte einer Stille Platz, wie es sie in solcher Vollkommenheit wohl nur an diesem einsamsten aller Orte auf der Welt gab, und kurz bevor er wieder anhob und die dröhnende Stille in seinen Ohren auslöschte, hörte er das Kollern eines Steins, der von einem unvorsichtigen Fuß angestoßen wurde; aus östlicher Richtung, ganz wie er angenommen hatte, aber ein gutes Stück weiter links, als er vermutet hätte – und deutlich weiter entfernt, sicherlich eine Viertelmeile, wenn nicht mehr. Murida musste zu rennen begonnen haben, kaum dass sie sich ein Stück von ihrem improvisierten Nachtlager entfernt hatte.
Andrej beschleunigte seine Schritte nicht nur ebenfalls, sondern fiel für eine Weile sogar in einen raschen Trab, bis er das Gefühl hatte, ihren Vorsprung weit genug aufgeholt zu haben, und wieder langsamer wurde. Dann und wann blieb erstehen, um zu lauschen, nicht immer mit Erfolg. Der Wind, der mit einem Geräusch wie Seide auf rauer Haut über die Wüste strich, schluckte ihre Schritte, bot Andrej aber gleichzeitig auch einen gewissen Schutz, blies er ihm doch direkt ins Gesicht, sodass sie ihn nicht hörte.
Und nach einer Weile sah er sie auch, nicht als Silhouette oder Schatten vordem Nachthimmel, sondern nur einen flüchtigen Eindruck von Bewegung, ohne dass es einen dazugehörigen Körper zu geben schien. Überrascht stellte Andrej fest, wie schnell sich das Mädchen bewegte und mit was für einer schon fast unheimlichen Sicherheit. Die Nacht war so sternenklar, wie es hier über der Wüste fast immer der Fall war, aber mondlos, sodass Murida beinahe blind sein musste, hatte sie doch nur das unzulängliche Sehvermögen einer Sterblichen, nicht seine Augen, auf die selbst eine Katze neidisch gewesen wäre. Er hätte erwartet, sie mit tastend vorgestreckten Armen und halb blind durch die versteinerte Einöde stolpern zu sehen, doch nachdem er den Abstand zwischen ihnen behutsam weiter verringerte und sie wirklich sehen konnte, stellte er fest, wie rasch und mit welch natürlicher Geschmeidigkeit sie sich bewegte; kaum langsamer, als es ihm selbst möglich gewesen wäre. Nicht zum ersten – und sicherlich auch nicht zum letzten- Mal gestand ersieh ein, dass Murida immer wieder für eine Überraschung gut war. Und ebenfalls nicht zum ersten Mal nahm ersieh vor, diesen Umstand im Hinterkopf zu behalten, mochte es sich doch durchaus als fatal erweisen, ihn zu vergessen.
Vielleicht eine Stunde lang folgte er Murida, ohne dass er eine Vorstellung von ihrem Ziel gehabt hätte, geschweige denn davon, wie sie sich in dieser vollkommenen Leere orientierte. Selbst ihm wäre es schwergefallen, eine bestimmte Richtung einzuhalten, denn seine Umgebung bot keinerlei Anhaltspunkte. Vielleicht wiesen ihr ja die Sternbilderden Weg, wie sie es auch für die Seeleute auf dem offenen Meer taten.
Die Nacht war der Morgendämmerung schon deutlich näher als der Mitternacht, als er das Licht sah. Es war nicht mehr als ein blasser rötlicher Hauch, vielleicht der Schein einer oder mehrerer Fackeln, die der Nachthimmel reflektierte, und hätte er sich nicht ganz auf Muridas Silhouette konzentriert, die sich direkt darauf zubewegte, dann hätte er ihn wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Unmöglich zu sagen, wie weit es noch bis zu seinem Ursprung war, doch Andrej schätzte, dass sie mindestens noch eine Stunde brauchen würden, um dorthin zu gelangen.
Es wurden zwei, obwohl das Mädchen am Schluss sogar noch einmal an Tempo zulegte und nun fast rannte, sodass sie erneut zu einem bloßen Umriss wurde, den er nur noch sah, weil er die Sterne verdeckte.
Dann verschwand sie ganz.
Es geschah so plötzlich, als hätte sich der Boden aufgetan, um sie zu verschlingen. Wie angewurzelt blieb Andrej stehen und wartete mit klopfendem Herzen darauf, dass sie wieder auftauchte,
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