Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
griff nach der angebissenen Frucht, drehte sie einen Moment in der Hand, als sähe er so etwas zum ersten Mal und wüsste nichts damit anzufangen, und legte sie dann mit einem leichten Schulterzucken wieder fort. Die kleine Szene hinterließ ein seltsames Gefühl in Andrej, wie eine Erinnerung an etwas, doch er wusste nicht, was. »Ich habe mit dem Sultan gesprochen«, fuhr Sharif nach einer quälend langen Pause fort. »Und soll euch folgendes Angebot machen: Sultan Süleyman stellt es euch frei, seine Gastfreundschaft noch so lange zu genießen, bis ihr die Folgen der zurückliegenden Nacht ganz überwunden habt, und dann unbehelligt eurer Wege zu gehen. Aber er würde es durchaus begrüßen, wenn ihr ihm auch weiter bei der Suche nach dem Machdi behilflich wärt. Für den Fall seiner Ergreifung stellt er euch auch eine nicht unerhebliche Belohnung in Aussicht.«
»Ich nehme an, wir werden mit einem goldenen Beil geköpft statt mit einem aus schnödem Eisen?«, fragte Abu Dun. Er lachte leise. »Und außerdem ist der Machdi doch tot. Ihr habt ihn erschießen lassen. Oder erstechen. Oder beides. Und das mindestens ein Dutzend Mal.« »Wofür es genügend Zeugen gibt«, fügte Andrej hinzu. Aber er kannte Sharifs Antwort schon, noch bevor der sie aussprach.
»Ihr solltet nicht den Fehler begehen und den Sultan unterschätzen«, sagte er. »Er ist nicht dumm. Er weiß sehr wohl, dass die Geschehnisse der letzten Nacht ein Fehler waren, der sich noch fatal auswirken könnte. Im Moment durchkämmen meine Männer die ganze Stadt und nehmen jeden Machdiji fest, der uns bekannt ist, und ich bin guten Mutes, dass es uns gelingt, seine gesamte Organisation in Konstantinopel zu zerschlagen. Dazu kommt, dass der Machdi selbst offiziell als tot gilt.« »Und da wäre es höchst unpraktisch, wenn er in einigen Tagen gesund und munter und ohne einen Kratzer wieder auftauchen würde«, fügte Andrej hinzu. Sharifs Blick wurde lauernd. »Ihr wisst, wie die einfachen Leute denken, Andrej. Stellt Euch nur vor, wie es auf sie wirken muss, wenn ein Mann vor aller Augen zu Tode kommt und dann wieder unversehrt vor ihnen steht.« Andrej sagte nichts dazu, und nach einem weiteren Moment verschwand der lauernde Ausdruck aus Sharifs Blick. »Meine Männer waren nicht untätig seit unserem ersten Gespräch«, fuhr er fort. »Wir kennen die meisten Anhänger des Machdi hier in der Stadt und auch bei Hofe. Aber ich will ehrlich zu euch sein: Es nutzt nichts, der Schlange den Schwanz abzuschlagen, wenn er immer wieder nachwächst. Man muss ihr den Kopf abschneiden.« »Wenn man denn weiß, wo er ist.« »Ich fürchte dort, wo wir ihn von Anfang an vermutet haben«, antwortete Sharif betrübt. »Ich wollte es wohl nicht wahrhaben, aber auch ich wurde getäuscht.« »Von der Tochter des Sultans«, sagte Abu Dun. Ergab sich nicht die geringste Mühe, seine Stimme anders als gehässig klingen zu lassen.
»Murida.« Sharif lächelte, doch sein Blick blieb ernst. »Im Augenblick ist es vielleicht nicht besonders geschickt, diesen Umstand in Gegenwart des Sultans zu erwähnen. Aber in der Sache habt ihr recht, fürchte ich. Ich fühle mich nicht besonders wohl in der Rolle des betrogenen Betrügers, das könnt ihr mir glauben, aber trotzdem: Lägen die Dinge nur ein wenig anders, würde ich versuchen, sie wieder für mich zu gewinnen. Sie ist gut. Nicht einmal ich habe sie durchschaut.«
»Was immer das über ihr Talent aussagen mag«, sagte Abu Dun fröhlich.
Sharif schenkte ihm zwar einen bösen Blick, fuhr aber an Andrej gewandt und in ruhigem Ton fort: »Der Sultan und ich haben uns darauf verständigt, unseren ursprünglichen Plan wiederaufzunehmen und die Schlange direkt ins Herz zu treffen.«
»Wie poetisch«, sagte Abu Dun. »Und ich dachte bisher, Murida bedeutet Maus.«
»Einiges deutet darauf hin, dass sie die Stadt bereits verlassen hat«, fuhr Sharif ungerührt fort. »Und wenn nicht, dann wird sie es zweifellos in den nächsten Tagen tun. Ich stelle gerade einen Trupp meiner besten Männer zusammen, der ihr folgt.«
»Und Ihr hofft, dass sie Euch zum Machdi führt«, sagte Andrej. Immerhin lebte Murida noch, was ihn mit einem Gefühl deutlich größerer Erleichterung erfüllte, als er selbst erwartet hätte.
»Sagen wir: Ich habe gewisse Informationen, die darauf hindeuten«, antwortete Sharif ausweichend.
»Woher?«
»Ich bitte dich, Andrej«, tadelte Sharif. »Du erwartest nicht, dass ich dir alle meine Geheimnisse verrate,
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