Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
Finsternis fiel, eines Drachen hoch über ihren Dächern, eines Marsches durch Schatten und Sturm. Er sah die Nephilim durch die Brak’ Az’ghur ziehen. Nicht alle hatten es bis nach Katnan geschafft, und er erkannte in den Blicken der Überlebenden deutlich, wie zerbrechlich ihr Schutz in dieser Stadt war und welche Hoffnungen sie in ihn setzten. Bald schon würden die Engel zu alter Stärke zurückkehren und die Jagd wieder aufnehmen. Die Nephilim würden ein Volk auf der Flucht sein, und Nando allein konnte dem ein Ende setzen – indem er den Teufel bezwang. Eine beißende Unruhe krallte sich in seinen Nacken, doch ehe er das Gleichgewicht verlor, tauchte ein Gesicht mit goldenen Augen in ihm auf, kaum mehr als ein Schemen zwischen den blutenden Blättern eines Mohnfeldes. Du wirst deinen Weg gehen. Du wirst das Leid deines Volkes beenden. Für einen Moment stand Nando nicht mehr im Zwielicht Katnans, sondern auf den Hügeln Bantoryns, und er spürte wieder Antonios Hand in der seinen und die sachte Berührung des Nebels in seinem Haar. Er hörte die Stimme des Engels so deutlich, als wäre er wirklich da. Das ist es, was Helden tun: Sie geben ihr Bestes, Nando. Aber sie verzweifeln nicht. Nando spürte die Wärme, die ihn bei diesen Worten durchdrang, und lächelte kaum merklich. Manche Bilder erloschen nie.
Der Schwingenschlag kam so plötzlich, dass Nando zurückfuhr. Nur knapp hielt er sich auf der Planke, und die Fledermaus grub ihre Zähne tief in seine Schulter. Blut rann über seine Haut, als er sie mit einem Eiszauber gegen die Wand schlug. Die Planke schwankte gefährlich, erschrocken breitete er die Arme aus, doch seine Füße verloren den Halt, und als er die Augen aufriss, schienen die Häuser sich zu ihm herabzuneigen wie in einem halb vergessenen Traum. Seine Hände griffen ins Leere, die Planke begann unter ihm zu tanzen. Verzweifelt versuchte er, den Bannzauber über seinen Schwingen zu lösen, aber er wusste, dass es zwecklos war. Er hatte ihn nicht grundlos so stark gewirkt. Ein Fluch kam über seine Lippen, dunkel war er und schmutzig wie viele Worte der Varja – und als wäre es ein Zauber gewesen, durchzog plötzlich ein Knirschen das Holz unter seinen Füßen. Eis glitt darüber hin und erstickte jede Bewegung. Nando wedelte mit den Armen, die Planke war glatt, doch ihre Reglosigkeit gab ihm die Sicherheit zurück, und nach einigem Tarieren hatte er sein Gleichgewicht wiedergewonnen.
Deine Gedanken könnten einen versteinerten Basilisken aufwecken, so laut sind sie, donnerte eine Stimme durch seinen Schädel. Du musst endlich lernen, dich nicht von deinen Gefühlen übertölpeln zu lassen! Und höre auf, in der Sprache der Varja zu fluchen, dieser Dämonenhexen der Alten Zeit! Fürchte die Dunkelheit, denn sie wird dich verderben, und dann wirst du zur Hölle fahren – ganz besonders, wenn du schon wieder zu spät zum Unterricht kommst!
Nando musste lachen. Im ersten Moment hatte er tatsächlich geglaubt, dass Avartos mit ihm sprach. Es gab nur eine Person, die den Engel so gut imitieren und zu einer pfaffenhaften Karikatur umformen konnte.
»Noemi«, sagte er, noch ehe er sich zu ihr umdrehte. »Ich glaube, für eine Fahrt in die Hölle stehen meine Chancen sowieso nicht schlecht.«
Sie stand auf dem anderen Ende der Planke, ihr schwarzes Haar wehte im Wind, und kaum dass sie lächelte, schob sich ein purpurfarbenes Äffchengesicht über ihre Schulter. »Nun, fahren wirst du vielleicht nicht unbedingt«, rief Kaya ihm zu. »Aber das Reiseziel stimmt, nicht wahr?«
Die Dschinniya griff in die Traubentüte, die Noemi in den Händen hielt, und stopfte sich eine ganze Ladung in den Mund. Seit ihrem Weg nach Katnan hatten die beiden sich angefreundet und machten regelmäßig die Märkte der Stadt unsicher.
»Es wird eine kurze Reise werden«, stellte Nando fest. »Jedenfalls, wenn ich mich dabei genauso geschickt anstelle wie auf dieser Planke.«
Noemis Blick traf ihn mit unverhohlenem Spott. »Die Dämonen des Pandämoniums würden sich über eine kleine akrobatische Einlage bestimmt freuen. Und dir erst danach die Gliedmaßen und Gedärme herausreißen.«
»Du hast leicht reden«, erwiderte Nando und kam auf sie zu. »Du konntest die Balance schon beim ersten Training halten.«
»Und du bist und bleibst ein Oberweltler«, sagte sie. »Ich habe schon jahrelang in den Schatten trainiert, als du noch in weichen Betten geschlafen und die Existenz der Schattenwelt nicht einmal erahnt
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