Die Chroniken der Schattenwelt: Angelos (German Edition)
anderen springen konnten wie von Eisscholle zu Eisscholle. Er selbst war noch immer irritiert, wenn plötzlich Hühner mit mehreren Köpfen aus den Wohnungen stoben oder ganze Gebäude sich unvermittelt aufrichteten und auf metallenen Füßen davonstolzierten, aber Noemi ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie war bereits zweimal in dieser Stadt gewesen, früher, als ihre Eltern noch gelebt hatten, und später noch einmal mit Silas, und sie fand sich in den düsteren Gassen ausgezeichnet zurecht.
Langsam wich der Bannzauber von Nandos Schwingen. Er drehte die Handgelenke nach vorn, wie Noemi es tat, wenn sie die Energie eines Ortes spüren wollte, und obwohl er ihre Kunstfertigkeit wohl nie erreichen würde, schien es ihm nun, da er den warmen Luftzug Katnans an der Haut fühlte, als würde der Atem der Stadt ihn durchdringen. Er mochte diesen Ort. Hier oben war der Geruch der Gassen zu ertragen, eine Mischung aus Abgasen, Gewürzen und Schweiß, und er hörte das Stimmengewirr, das sich aus so vielen Sprachen zusammensetzte, dass selbst Avartos sie nicht alle verstand. Neben Schutzsuchenden wie den Nephilim, königsfernen Engeln und Dämonen, die den Weg Luzifers verlassen hatten, lebten vor allem Menschen hier. Die meisten waren aus der Oberwelt gekommen, und sie ertrugen den Schmutz, die Gefahr und das Zwielicht Katnans, da sie an diesem Ort etwas gefunden hatten, das die Oberwelt ihnen vorenthielt – hier unten, in den Gassen der Dämmerung, waren sie frei.
Kreischende Musik riss Nando aus seinen Gedanken. Sie hatten einen hölzernen Turm erreicht, der bedenklich schwankte, und noch während sie über knarzende Treppen abwärtsliefen, konnte er durch die fadenscheinigen Bastwände das Herrenhaus sehen, das auf der anderen Straßenseite stand. Pechschwarz war es, ein Koloss inmitten der Hütten, und während im Dachgeschoss eine Gnomenabsteige buntes Licht und schrecklich disharmonischen Gesang ins Zwielicht sandte, waren die Fenster darunter starr wie Totenaugen.
Sie überquerten die Straße, und wie jedes Mal, wenn er zu dem gewaltigen Portal aufsah, hielt Nando den Atem an. Die Bibliothek der Dornen barg einen Großteil des Wissens der Schattenwelt. Sie war eines der wenigen Relikte aus der Zeit Yryons, das erhalten geblieben war.
»Avartos wird entzückt sein von dieser Musik«, sagte Noemi, und aus irgendeinem Grund klang sie zum ersten Mal an diesem Abend ausgesprochen fröhlich.
Nando seufzte. »Er wird es uns fühlen lassen, wenn die Gnome ihm den ganzen Tag auf dem Kopf herumgesprungen sind, das ist dir klar, oder?«
Noemi betrachtete das mächtige zweiflügelige Eingangsportal. Der grimmige Löwenkopf über der Klinke machte unmissverständlich klar, dass Besucher nur in den seltensten Fällen erwünscht waren.
»Wusstet ihr, dass niemand einen Schlüssel zu diesem Tor hat?«, fragte sie beiläufig. Sie spielte mit einer Haarsträhne, etwas, das sie nur tat, wenn sie gerade etwas ausheckte. Nando bemerkte den Funken in ihren Augen, als sie seinen Blick erwiderte, dieses schwarze Glimmen inmitten ihrer auffallend grünen Iris, das ohne jeden Zweifel ihr dämonisches Erbe verriet. »Niemand hat einen Schlüssel«, wiederholte sie langsam. »Er ging vor langer Zeit verloren, und so sind selbst der Bibliothekar und seine Helfer gezwungen, den gesicherten Hintereingang zu benutzen. Ansonsten haben nur ausgewählte Gäste Zutritt zu den wertvollen Büchern. Jetzt gerade ist übrigens außer Avartos niemand mehr da. Die Verantwortlichen verlassen die Bibliothek immer um die gleiche Zeit, und … sagte ich es schon? Niemand hat einen Schlüssel … außer mir.« Sie lächelte, als sie etwas aus der Tasche zog. Es war ein gläserner Stab, leicht gezackt und mit einer silbernen Flüssigkeit in seinem Kern.
Kaya sog auf Nandos Schulter die Luft ein. »Der fahrende Händler«, flüsterte sie. »Er hat ihn hergestellt, nicht wahr? Der Kerl mit dem Silbergras?«
Noemi hob leicht die Schultern. »Nekromanten kennen sich damit aus, Totes zum Leben zu erwecken. Für den Rest meiner Alvre hat er mir gern geholfen.«
»Aber … «, begann Kaya. »Du willst doch nicht etwa dort einbrechen?«
Beinahe betroffen legte Noemi den Kopf schief. »Wenn man einen Schlüssel hat, ist es doch kein Einbruch. Und außerdem … fällt euch denn gar nichts auf?« Sie sah sich um und antwortete sich selbst: »Avartos ist nicht da. Wir sind zum Training verabredet, und er taucht einfach nicht auf. Dabei verspätet er
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