Das Versprechen des Opals
PROLOG 1969
M iriam Strong trat hinaus auf die Veranda der Bellbird-Farm. Der Morgen würde erst in einer Stunde dämmern. Sie hatte eine ruhelose Nacht hinter sich, eine Nacht voller Träume und Bilder der Vergangenheit, herauf beschworen von den Ereignissen des Tages. Als Miriam den frischen Duft des regennassen Grases und den süßen Hauch von guter roter Erde einatmete, spürte sie, wie ihre Tatkraft und Entschlossenheit zurückkehrten. Beides würde sie brauchen, denn der Kampf, der vor ihr lag, würde nicht gerade angenehm werden.
Sie schloss die Augen und bemühte sich, die nächtlichen Bilder zu vertreiben, indem sie ihre glücklichen Stunden Revue passieren ließ. Ihr Leben hatte vor beinahe fünfundsiebzig Jahren zwar im kühleren Grün Südaustraliens begonnen, aber sie hatte doch das Gefühl, in diese heiße, sepiafarbene Welt hineingeboren zu sein, mit dem Zirpen der Grillen, dem Gelächter des Kookaburra, dem Seufzen des warmen Windes in den Bäumen. Das war ihre Heimat, und sie würde niemals fortgehen, denn hier fand sie Kraft und Trost. Auf dieser Farm im Outback hatte sie die Unwägbarkeiten des Lebens kennen gelernt, in der harten Schule voll schrecklicher Schönheit, die sie umgab. Und auf dem Farmhof hatte sie ihr erstes Pony geritten. Hier hatte sich ihr Leben abgespielt, und fast konnte siehören, wie Lachen und Weinen in der Stille kurz vor Morgengrauen widerhallten.
Bellbird lag in der entlegenen Nordwestecke von New South Wales, ein Queenslander-Haus mit sechs Zimmern, vor fast einem Jahrhundert erbaut. Es hatte eine Küche im hinteren Teil, ein selten benutztes Wohnzimmer und drei Schlafräume. Zwanzig Jahre zuvor war ein Badezimmer dazugekommen, und das alte Plumpsklo hinter dem Haus war bald den Termiten und den Elementen zum Opfer gefallen.
Das unvermeidliche Wellblechdach senkte sich schräg über die breite Veranda, die rings um alle vier Seiten des Haupthauses reichte. Das Leben spielte sich zum größten Teil auf dieser Veranda ab, vor allem in der Hitze des Sommers, und Miriam hatte ein Schlafsofa mit Moskitonetz in der einen, einen Tisch mit ein paar Stühlen in der anderen Ecke aufgestellt. Etliche ramponierte Korbsessel standen hier und da zwischen riesigen Töpfen mit Farnen und anderen Grünpflanzen, die den kühlen Schatten der Bäume ringsum ergänzten. Die Bäume beherbergten Gallahs und Wellensittiche in allen Farben – und natürlich auch den winzigen Bellbird, den Glockenvogel, dessen eintöniges Flöten zu den reinsten Klängen im Busch gehörte.
Miriam setzte sich mit einem tiefen Seufzer in einen der Korbsessel und stellte die Spieldose behutsam auf den wackligen Tisch. Darüber würde sie später nachdenken. Ihr Besucher würde bald eintreffen, und sie brauchte diesen Augenblick der Stille, um für das, was bevorstand, ihre Kräfte zu sammeln. Wie ihre Familie reagieren würde, wusste Gott allein.
Chloe, ihre Tochter, würde wahrscheinlich sagen, sie solle nicht so viel Aufhebens machen. Unruhe jeglicher Art konnte sie nicht ausstehen. Sie versteckte sich lieber mit ihren Bildern in dem großen, weitläufigen Strandhaus an der Byron Bay. Das Mädchen hat immer nur in seinen Träumen gelebt, dachteMiriam müde. Sie schaute über den Hof hinaus und sah Chloe vor sich, das kleine Mädchen mit dem Lichtkranz aus kupferroten Haaren und diesen grünen Augen, die nichts von ihrem Strahlen verloren hatten. Vermutlich war sie glücklich, aber wer wusste das schon? Sie und Leo waren zwar geschieden, aber Miriam hatte den Verdacht, dass sie sich besser miteinander verstanden, seit sie getrennt lebten – und das konnte nur gut sein. Oder nicht? Miriam schnalzte mit der Zunge. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, und die Probleme ihrer Familie waren ihre geringste Sorge.
Der Gedanke an ihre Enkelinnen entlockte ihr ein Lächeln. Die beiden unterschieden sich wie Feuer und Wasser. Fiona würde das Abenteuer der bevorstehenden Schlacht wahrscheinlich genießen, aber Louise? Die arme, unterdrückte, frustrierte Louise würde die Auseinandersetzung nur als ein weiteres Problem in ihrem Leben betrachten.
Miriam schob die Gedanken an ihre Familie beiseite und quälte sich in ihre Stiefel. Die Rückenschmerzen waren hilfreich, denn sie erinnerten sie beständig an ihre Sterblichkeit. Sie schimpfte leise, als die Schnürsenkel sich selbstständig machten und sich einfach nicht binden lassen wollten. Es war ein verdammtes Kreuz mit dem Altsein, und sie war weit davon
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