Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
war. Sein Gesicht verriet ihn immer, hatte sie behauptet. Deshalb konnte er auch nie beim Rendrah gewinnen. Im letzten Jahrzehnt hatte er das Lügen auch nicht besser gelernt, und nun stand viel mehr auf dem Spiel als je zuvor. So klug, wie Sartol war, würde er sofort wissen, dass etwas geschehen war; er würde Einzelheiten erwarten, Namen, Schauplätze. Und Niall wusste einfach nicht, was er sagen sollte.
Er brauchte nicht lange, um nach Amarid zurückzukehren, und das Problem beschäftigte ihn immer noch, als er über den Larian zum alten Stadtkern gelangte. Ihm war nicht danach, in sein Zimmer zurückzukehren, und daher streifte für den Rest der Nacht durch die Straßen und Gassen von Amarid und genoss die Einsamkeit in der schlafenden Stadt, während er weiter fieberhaft nachdachte.
So geschah es, dass ihn sein zielloses Umherwandern weit vor Anbruch der Morgendämmerung zur Großen Halle mit ihrem Kuppeldach und ihren glitzernden Statuen brachte. Als Niall begriff, wo er war, beschloss er, in der Richtung, die er eingeschlagen hatte, weiterzugehen, bis er das Wäldchen erreichte, das das Heim des Ersten Magiers umgab. Aber in diesem Augenblick bemerkte er etwas, was seine Welt viel mehr einstürzen ließ als alles, was Jaryd und Alayna zuvor gesagt hatten. Durch das durchscheinende weiße Glas der Fenster des Versammlungssaales, schwach und flackernd wie eine Kerze im Wind, aber absolut unmissverständlich, war das helle Gelb von Sartols Ceryll zu erkennen. Es erfüllte das gesamte Gebäude, ließ die Fenster der Halle ätherisch schimmern, aber es war eindeutig am westlichen Ende heller: dort, wo der Rufstein auf seinem massiven Holzsockel lag. Niall dachte kurz daran, sich in die Halle zu schleichen, um deutlicher sehen zu können, was Sartol tat. Aber wenn Sonel recht gehabt hatte - was plötzlich sehr wahrscheinlich schien -, hatte Sartol nichts zu verlieren, wenn er Niall umbrachte, und es würde ihm nicht schwer fallen. Der Eulenmeister dachte auch daran, zu der Lichtung zurückzukehren, auf der er Alayna und Jaryd gefunden hatte. Aber es fiel ihm kein zwingender Grund dafür ein, wenn man davon absah, dass er sich gerne für seine Zweifel entschuldigt und den jungen Leuten gesagt hätte, dass er ihnen jetzt glaubte. Sicher hatten sie bereits ihre eigenen Pläne, die berücksichtigten, was er gerade erst definitiv über Sartol in Erfahrung gebracht hatte. Sie brauchten weder seine Hilfe noch seine Treue - nur sein Schweigen. Außerdem musste er sich am Morgen immer noch mit Sartol treffen, also war es besser, nicht zu viel von ihrer Strategie zu wissen.
Daher ging Niall, nachdem er noch eine Weile zugesehen hatte, wie das gelbe Licht in der Halle flackerte und tanzte, einfach weiter, und folgte dem Weg, für den er sich bereits entschieden hatte. Seine Gedanken allerdings bewegten sich nun in eine neue Richtung. Er hatte keine Wahl mehr: Er würde lügen müssen, wenn er Sartol am Morgen gegenübertrat. Die Frage war, wie er das bewerkstelligen sollte. Er verbrachte den Rest dieser Nacht und die ersten Stunden des Tageslichts auf dem Gelände von Amarids Haus. Im Morgengrauen kamen die Diener, die sich um das Gelände kümmerten, aus ihren bescheidenen Räumen, um sich um das Gelände zu kümmern und das Haus auf den stetigen Strom von Besuchern vorzubereiten, die jeden Tag hierher pilgerten, um den Ort zu sehen, an dem der Erste Magier seine Jugend verbracht hatte. Die Diener beäugten Niall mit offener Neugier, aber zum Glück hielten sie Abstand und störten seine Einsamkeit nicht. Dennoch wusste er selbst auf dem Rückweg zur Großen Halle noch nicht, was er Sartol sagen sollte. Er hatte sich einiges überlegt, aber keine dieser Möglichkeiten kam ihm überzeugend vor; er hatte kaum Hoffnung, dass es ihm gelingen würde, Sartol in die Irre zu führen.
Bis er die Marmorstufen am Eingang zu Großen Halle erreicht hatte, raste sein Puls bereits. Er wusste, dass er blass geworden war. Als er die Hand ansah, mit der er den Stab hielt - er hatte die andere zitternde Hand schon in eine Tasche seines Umhangs gesteckt -, bemerkte er, dass die Knöchel ganz weiß waren. Oben auf der letzten Stufe blieb er stehen und holte tief Luft, aber auch das half nicht viel, um ihn zu beruhigen. Dann betrat er die Große Halle. Sobald er in dem Gebäude war, zuckte sein Blick, getrieben von Instinkt und Angst, zum Rufstein, der am anderen Ende des Raums auf dem Holzsockel lag. Selbst jemand, der wusste, wonach er
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