Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
Ausschau halten musste, hätte hier zunächst nichts Ungewöhnliches bemerkt. Erst als er näher zu dem Stein hingegangen war - mit leisen Schritten, damit Sartol noch nichts von seiner Anwesenheit erfuhr -, sah Niall das schwache Leuchten, das von dem riesigen Kristall ausging. Es war heller als Sartols Ceryll und hatte kaum mehr Farbe als der helle Sand am Unteren Horn. Dennoch, es war nicht abzustreiten, dass der Stein begonnen hatte zu leuchten, und seine Farbe würde, wenn sie erst intensiv genug war, genau der von Sartols Ceryll entsprechen. Niall blieb vor dem Stein stehen und sah sich die schreckliche, aber subtile Veränderung an, die Sartol in der vergangenen Nacht bewirkt hatte. Und während er das tat, kam ihm endlich die rettende Idee. Diese Geschichte würde Sartol eine plausible Erklärung für Nialls Unbehagen liefern und den Eulenmeister so sehr erfreuen, dass er sich nicht die Mühe machen würde, weitere Fragen zu stellen. Einen kurzen Augenblick lang, als er dort vor dem Kristall stand, nur ein paar Schritte von der Tür zu Sartols Zimmer entfernt, grinste Niall. Also kann ich doch bei diesem Spiel mitmachen, sagte er sich. Vardis hätte das sehr erheiternd gefunden. Dann wurde er wieder ernst und klopfte an Sartols Tür.
Wäre Niall wirklich so von Schuldgefühlen und Trauer erfüllt gewesen, wie er Sartol glauben machen wollte, dann hätte er vermutlich die Taktik des Eulenmeisters nicht bemerkt. Aber unter dem Einfluss dessen, was er tatsächlich am vergangenen Abend erlebt hatte, erkannte Niall alles: die Manipulation, die Schmeichelei, das falsche Mitgefühl. Man hatte ihn betrogen - man hatte sie alle betrogen. Erst jetzt dachte er wieder daran, wie stoisch Alayna von Sartols Verrat gesprochen hatte, und sein Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Er hoffte, bald Gelegenheit zu erhalten, sich bei ihr für seine Zweifel zu entschuldigen. Nachdem er Sartol verlassen hatte und durch den Versammlungssaal wieder hinaus in die Sonne trat, spürte Niall schließlich, wie die schlaflose Nacht ihn einholte. Müde und unruhig und erschrocken über das plötzliche Läuten der Glocken, tadelte sich der Eulenmeister dafür, dass er durch die Straßen der Stadt gestreift war, als er sich doch eigentlich hätte ausruhen sollen. Dennoch, er eilte zum Gasthaus Kristall, denn er wusste, dass Sartol von ihm erwartete, dass er die angeklagten Magier zur Verhandlung eskortierte. Als er Baden, Orris und Trahn aus der Taverne und auf die Halle zuführte, fragte er sich kurz, ob er diese Gelegenheit nutzen sollte, um Baden darüber zu informieren, dass er wusste, dass Jaryd und Alayna noch am Leben waren, und dass er sich ihrer gemeinsamen Sache angeschlossen hatte. Aber er war immer noch nicht vollkommen sicher. Während er die Straße entlangging, dachte er so intensiv über diese Frage nach, dass er in eine Art von Trance fiel. Nur Badens verblüffender Ausbruch und seine erstaunlich zutreffende Vermutung, dass Niall wusste, wo Sonel sich aufhielt, riss ihn aus seinen Gedanken. Niall hätte Baden in diesem Augenblick von seinem Gespräch mit den jungen Magiern erzählen können. Tatsächlich dachte er auch daran. Aber etwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es Badens beißender Ton oder vielleicht seine Angst, dass Badens Reaktion Sartol zu viel verraten könnte. Tatsächlich fiel es Niall in diesem Augenblick schwer, die beiden Gründe voneinander zu trennen. Und im nächsten Augenblick zerschnitt Orris die zögerlichen Bande, die Niall mit ihrer Sache verbunden hatten. Badens barsche Worte, die von der Sorge um Jaryd, Alayna und Sonel herrührten, hätte er ertragen können. Aber nicht Orris' selbstgerechte Anklagen.
Empört und beleidigt führe Niall sie den Rest des Weges schweigend weiter, und er brachte sie zu ihren Plätzen vor dem großen ovalen Tisch, an dem über ihr Schicksal entschieden werden würde. Einen Augenblick später jedoch, als Sartol aus seinem Zimmer kam, wurde Nialls Blick abermals von dem veränderten Rufstein angezogen, der neben der offenen Tür stand, und der Ärger des Eulenmeisters verschwand erstaunlich schnell. Seine Empörung über Badens Andeutungen und Orris' Unverschämtheit hatte angesichts der Gefahr, die dieser wagemutige, charismatische Mann für das ganze Land darstellte, nichts zu bedeuten. Zu spät erkannte Niall, während er zu seinem Platz am Tisch ging, dass Baden und Orris zusammen mit Trahn und den drei Magiern, die er auf der Lichtung zurückgelassen hatte, die
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