Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
Aufmerksamkeit konzentrieren konnte, wandte sich Baden Niall zu, weil er vorhatte, ihn zu fragen, wie viele Magier seit ihrer Begegnung mit Sartol noch nach Amarid gekommen waren. Aber etwas in der Haltung des Eulenmeisters ließ ihn stutzen - Niall schien vollkommen unzugänglich, als hätte er die Frage nicht einmal gehört, wenn Baden sie gestellt hätte. Ohne ein Wort wandte sich Baden wieder nach vorn und sah gerade noch, wie Trahn Orris etwas zuflüsterte. Was immer er gesagt hatte, es schien den blonden Magier ein wenig aufzuheitern und ihm einen Hauch von Ruhe zurückzugeben.
Die Menschenmenge wirkte weniger feindselig gegenüber den Angeklagten als am Tag zuvor. Ein paar riefen Beschimpfungen und Drohungen, als die drei vorbeikamen, aber zum größten Teil spürte Baden mehr Neugier als Zorn. Nialls Verhalten beunruhigte ihn allerdings. Die selbstgerechte Haltung, mit der der ältere Mann sie gestern behandelt hatte, hatte ziemlich gut zu dem gepasst, was Baden über Niall wusste. Der Eulenmeister war ein zutiefst moralischer Mensch. Baden hatte häufig während Versammlungen mit ihm Auseinandersetzungen gehabt, aber er hielt Niall für ehrenhaft, und es hatte ihm sehr Leid getan, dass Vardis gestorben war. Er konnte einfach nicht glauben, dass der Eulenmeister sich Sartol in seinem Verrat am Land angeschlossen hatte - solcher Verrat lag nicht im Wesen des älteren Mannes. Zweifellos hatte sich Sartol Nialls Mitarbeit gesichert, indem er ihm Baden und die anderen als gefährliche Feinde des Ordens und des Landes schilderte. Aber Nialls Verhalten an diesem Morgen war verstörend. Und in diesem Augenblick begriff Baden mit Schwindel erregender Schnelligkeit und erschreckender Klarheit, dass Nialls finstere Stimmung und Sonels Fernbleiben irgendwie miteinander zusammenhingen.
Wieder überfiel ihn Panik; es war, als krallte sich eine eisige Hand um sein Herz. Er fuhr zu Niall herum, und diese abrupte Bewegung riss den Eulenmeister aus seiner seltsamen Versunkenheit.
»Was hast du ihr angetan?«, zischte Baden. »Wo ist Sonel?« Niall sah ihn schweigend an und blieb ärgerlich ruhig. »Ich weiß nicht, wovon du da sprichst«, erwiderte er schließlich beinahe freundlich. »Bitte, geh weiter, Baden. Alle warten schon auf euch.«
»Ich werde keinen einzigen Schritt mehr machen, ehe du mir die Wahrheit sagst!«
Orris und Trahn waren stehen geblieben und drängten sich nun näher an die beiden Eulenmeister.
»Was ist los, Baden?«, fragte Orris und betrachtete Niall misstrauisch.
»Niall ist für das verantwortlich, was mit Sonel passiert ist.« Trahn sah den älteren Magier abschätzend an. »Woher weißt du das?« »Ich weiß es eben.« Baden packte Nialls Umhang, was die hell gefiederte Eule des Magiers leise zischen ließ. »Was hast du mit Sonel gemacht?«, fauchte er, und jede einzelne Silbe kam überdeutlich heraus.
Niall betrachtete Baden noch ein paar weitere Sekunden mit dieser nervtötenden Gelassenheit. Dann legte er seine Hand fest auf Badens und entzog sich dem Griff des Eulenmeisters. »Es geht ihr gut«, sagte er zu ihnen allen, als lege er ein Geständnis ab. »Ich bin nicht sicher, wo sie sich im Augenblick befindet, aber als ich sie zum letzten Mal sah, ging es ihr gut.«
Baden hätte zu gern nach Jaryd und Alayna gefragt. Aber Nialls Worte ließen nicht unbedingt darauf schließen, dass er auch nur wusste, ob die jungen Magier noch lebten, und Baden konnte es nicht wagen, sie zu verraten. »Wenn ihr etwas zugestoßen ist«, drohte er stattdessen ein wenig sinnlos, »dann werde ich dich dafür verantwortlich machen.«
»Du hast uns also beobachtet«, sagte Orris tonlos und seine Augen glühten anklagend. »Du hast für Sartol spioniert.«
Es war ausgerechnet diese Bemerkung, die Niall die Fassung verlieren ließ. »Du kannst dir kein Urteil über mich erlauben!«, erklärte er hitzig. »Und ich bin niemandem eine Erklärung schuldig! Ich werde mich dem Urteil der Götter stellen, wenn ich mich dazu bereit fühle, und bis dahin werde ich tun, was ich für angemessen halte!« Er bedachte alle drei mit einem herrischen Blick. »Im Augenblick allerdings«, fuhr er mit leiserer Stimme, aber nicht weniger empört fort, »seid ihr drei es, die des Verrats angeklagt werden.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von ihnen ab, ging entschlossen auf die Große Halle zu und zwang damit die angeklagten Magier, ihm zu folgen.
Kurz darauf stiegen sie die Marmorstufen hinauf und gingen durch die
Weitere Kostenlose Bücher