Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
riesige Eichentür. Der Versammlungssaal sah ganz ähnlich aus wie am Tag zuvor. Die drei Stühle, auf denen Baden, Trahn und Orris für gewöhnlich saßen, standen in einer Reihe beinahe am Ende des Saals, dem Rest des Ordens gegenüber, und zwischen den Stühlen an dem großen Tisch gab es drei Lücken. Mehrere Magier waren am Vorabend und früh an diesem Morgen eingetroffen, überwiegend Falkenmagier, die zu Ursels Patrouillen gehört hatten. Tatsächlich war auch Ursel selbst, braun gebrannt und strotzend vor Gesundheit, das kurze, braune Haar von den Tagen in der Sonne blond gesträhnt, unter jenen, die bereits in der Halle warteten. Aber noch immer war weniger als die Hälfte der Stühle rings um den Tisch besetzt, und die meisten der Anwesenden waren Eulenmeister. Als sich Baden umsah, entdeckte er mit wachsender Unruhe, dass Sonel noch nicht eingetroffen war.
»Bei den Göttern!«, flüsterte Orris erschrocken.
Sofort wandte sich Baden dem Rufstein zu, obwohl er bereits wusste, was er sehen würde. Gelbes Licht. Es war so schwach, dass er es nie bemerkt hätte, wenn er nicht danach Ausschau gehalten hätte. Einem harmlosen Beobachter wäre es wie eine optische Täuschung vorgekommen, eine Illusion, geschaffen vom Sonnenlicht und den halb durchsichtigen Fenstern der Großen Halle. Aber Baden hatte das Flackern schon am Tag zuvor bemerkt: Das hier war keine Fata Morgana, keine Sinnestäuschung. »Lange wird er es nicht mehr verbergen können«, sagte Baden leise und sah, wie Orris unauffällig nickte. »Er muss kurz davor stehen, ihn zu beherrschen.«
»Stellt euch vor den Stühlen auf!«, befahl Niall in einem Tonfall, der sie zum Schweigen brachte.
Die drei angeklagten Magier taten, was man ihnen gesagt hatte, und wie schon am Vorabend signalisierte er Odinan mit einem knappen Nicken, dass alles für Sartol bereit war. Odinan kam ungelenk auf die Beine und strich sich verlegen die weißen Haarsträhnen glatt, die von seinem Kopf abstanden. Der Rest des Ordens erhob sich ebenfalls, und der alte Eulenmeister stieß den Stab fest auf den Boden, was im Saal laut widerhallte und die geflüsterten Gespräche zum Schweigen brachte.
Ein Augenblick verging. Dann ein weiterer. Alle im großen Saal warteten still darauf, dass schließlich am anderen Ende eine Tür aufging und Sartol hereinkam.
Es war eine lange Nacht gewesen. Zu lange, dachte Sartol, als er vor der Feuerstelle im Zimmer des Eulenweisen auf und ab ging, einen Becher Shan-Tee in den Händen. Dennoch, er hatte nicht annähernd Zeit genug gehabt. Er fühlte sich erschöpft, vollkommen übermüdet, wenn man bedachte, was ihn an diesem Tag noch erwartete. Zweimal hatte er den Becher zurückgeschickt und sich bei den Dienern beschwert, dass der Tee nicht stark genug war. Und obwohl sie die letzten Blätter eine halbe Stunde lang hatten ziehen lassen, hatte der Tee seine Müdigkeit immer noch nicht merklich verringert. Der Eulenmeister überlegte, ob er abermals mit der Kristallglocke läuten sollte, aber dann beschloss er, es nicht zu tun. Auch die Wirkung dieses Krauts war begrenzt, und er brauchte Schlaf und keinen stärkeren Tee. Außerdem war es nicht gut, jemanden wissen zu lassen, wie erschöpft er war, nicht einmal die undurchschaubaren blau gewandeten Diener. Er konnte es sich nicht leisten, schwach zu wirken, und er hatte nicht vor, Spekulationen darüber Vorschub zu leisten, womit er die Nächte verbrachte, wenn er sich doch eigentlich ausruhen sollte.
Er hatte vorgehabt, zumindest einen Teil der vergangenen Nacht zu schlafen, genau wie in den vergangenen beiden. Aber dreimal hintereinander war er so in seiner Anstrengung versunken, sich an den Rufstein zu binden, dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. In den ersten beiden Nächten hatte ihn das nicht gestört, zumindest nicht sonderlich. In der letzten Nacht allerdings - vor allem früh am Morgen - war er wirklich verzweifelt gewesen, als er die ersten Sonnenstrahlen durch die milchigen Fenster des Versammlungssaals fallen sah. Er hatte nur ungern mit seiner Arbeit aufgehört, war zornig auf sich selbst gewesen, weil er das Zeitgefühl derart verloren hatte, und hatte sich rasch in sein Zimmer zurückgezogen, nur Augenblicke, bevor die ersten Diener eintrafen und begannen, den Saal für die bevorstehende Verhandlung vorzubereiten.
Kurz darauf hatte Jessamyns Dienerin - er erinnerte sich, dass sie Basya hieß - an die Tür geklopft, war hereingekommen und hatte die Brauen überraschter
Weitere Kostenlose Bücher