Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
beiden Legatinnen, die sie meistens begleiteten, und sie ließ die Soldaten vorsichtshalber in Rautenform um sie herum in Stellung gehen.
Aber sobald sie die Residenz betrat, erkannte sie, dass an Dobs Einladung mehr war, als sie angenommen hatte. Zunächst einmal wartete er nicht oben im Besprechungsraum des Rates auf sie, sondern stand in der Eingangshalle. Und er war allein.
»Ich grüße dich, Herrscherin«, sagte er. »Du kannst zusammen mit deinen Begleiterinnen gerne nach oben ins Beratungszimmer gehen, aber deine Wachen müssen hier bei mir bleiben.«
»Wie bitte?«, sagte sie. »Warum sollte ich -?« Sie hielt abrupt inne, als sie begriff, was er da gesagt hatte. »Bei dir bleiben? Ich dachte, wir wollten miteinander sprechen.« »Du wirst es gleich verstehen, Herrscherin.« Er zeigte auf die Treppe. »Bitte. Wir haben nicht viel Zeit.«
Sie starrte ihn einen Moment lang an. »Ich bin nicht sicher, ob ich dir traue.«
Er grinste, und seine blauen Augen blitzten unter wirrem schwarzem Haar. Er sah auf eine raue Weise recht gut aus. »Das kann ich dir nicht übel nehmen«, sagte er. »Aber aus diesem Grund stehe ich auch hier vor dir, allein und unbewaffnet. Wenn dir etwas zustößt, werden deine Leute Rache nehmen können, indem sie mich töten.«
Sie sah ihn noch einen Moment länger an, dann nickte sie. »Behaltet ihn im Auge«, sagte sie an den Hauptmann ihrer Wache gewandt. »Aber rührt ihn nicht an, solange nichts passiert.«
»Jawohl, Herrscherin.«
Sie ging die Treppe hinauf und bedeutete den Legatinnen, ihr zu folgen. Für diese ganze Sache gab es nur eine einzige Erklärung, und Wiercia war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Einerseits war sie erleichtert, mehr als sie je angenommen hätte. Aber andererseits war sie auch zornig. Wie viel Hinterhältigkeit würde sie von ihrer Mitherrscherin noch hinnehmen müssen?
Wiercia war vorbereitet, aber ihre Legatinnen waren vollkommen ahnungslos, und als sie ins Besprechungszimmer kamen und Melyor sehr lebendig und mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen an ihrem üblichen Platz sitzen sahen, keuchten sie erschrocken.
»Komisch«, sagte Wiercia trocken, »du siehst gar nicht tot aus.«
Melyors Lächeln wurde breiter. »Ich werde das als Kompliment betrachten.«
»Ich bin nicht sicher, wie du es betrachten solltest. Bei den Göttern, Melyor, was soll das? Was machen wir hier? Warum stellst du dich tot?«
Die Frau zeigte auf Wiercias Stuhl. »Setz dich bitte«, sagte sie. »Ich werde all deine Fragen beantworten, aber es könnte eine Weile dauern.«
Wiercia setzte sich widerstrebend hin und sah sich dabei im
Zimmer um. Zwei Männer saßen neben Melyor. Einer von ihnen war ihr Sicherheitschef, Jibb, dem Wiercia schon mehrmals begegnet war. Aber den anderen Mann kannte sie nicht. Er war groß und schlank und hatte ein schmales Gesicht und helle, unruhige Augen, mit denen er Wiercia nun einen kurzen Seitenblick zuwarf, bevor er sich wieder abwandte. Er trug die gleiche Uniform wie Jibb, also war er wohl ein Sicherheitsmann, aber anders als Jibb war er nicht bewaffnet.
Melyor hatte wie immer einen Werfer an den Oberschenkel geschnallt und trug die übliche dunkle, weit geschnittene Hose und ein helles Hemd. Das Einzige, das sie von einem gewöhnlichen Gesetzesbrecher unterschied, war ihr Stab, der auf dem Tisch lag und dessen roter Stein hell leuchtete, als wollte er Wiercia daran erinnern, warum sie der Frau nicht traute.
»Als Erstes«, begann Melyor ernst, »möchte ich mich für die Täuschung entschuldigen. Ich versichere dir, es war absolut notwendig. Ich wollte, dass Marar mich für tot hält, und da ich nicht weiß, welchen von meinen Männern er als Spion rekrutiert hat, mussten es alle glauben.«
»Nun, ich kann dir sagen, dass Marar von deinem Tod überzeugt ist«, sagte Wiercia. »Er hat sich vor ein paar Tagen mit mir in Verbindung gesetzt, um es mir zu erzählen, und er hat sich vor Freude beinahe überschlagen. Zumindest war das zu Anfang so.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich habe ihn gefragt, wie er so bald von deinem Tod erfahren hat, und als er zurückhaltender wurde, habe ich ihn bezichtigt, dass er dich getötet und auch Shivohn auf dem Gewissen hat.«
Melyor zog eine Braue hoch. »Glaubst du das wirklich?« Wiercia zuckte die Achseln und ließ den Blick wieder zu Melyors Stein schweifen. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Um ehrlich zu sein, traue ich euch beiden nicht.« »Würde es helfen, wenn
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