Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
fragte er, als Alayna die Tür hinter sich schloss.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wage nicht einmal zu spekulieren. Ich weiß nicht einmal, ob es eine wirkliche Vision war.«
»Daran dachte ich auch schon«, erwiderte er. »Aber wir haben ihr nie von Sartol erzählt. Wie sollte sie im Stande sein, ihn so genau zu beschreiben, wenn es kein Wahrtraum gewesen ist?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich weiß auch nicht, wie es möglich sein soll, dass er hierher kommt. Der Fluch fesselt ihn an seinen Bindungsort.«
»Ist es denn möglich, dass es nicht Sartol war? Dass wir zulassen, dass unsere Erinnerungen und Ängste ihre Vision zu etwas machen, das sie gar nicht ist?«
Alayna strich sich das Haar aus der Stirn. »Das würde ich gern glauben. Aber du hast gehört, was sie über seine Augen gesagt hat. Sie hat einen unbehausten Magier gesehen. Und nach allem anderen, was sie uns erzählt hat, gehe ich davon aus, dass es sich um Sartol handeln muss.«
»Und wieso sollte er herkommen? Um Rache zu nehmen?« »Deshalb und wegen des Rufsteins.«
Jaryd wurde bleich. »Den Stein hatte ich ganz vergessen.« »Ich nicht.«
Er warf ihr einen liebevollen Blick zu. »Es war nicht deine Schuld. Das solltest du inzwischen wirklich wissen.«
»Ich weiß es.« Im wörtlichen Sinn entsprach das der Wahrheit. Aber noch lange, nachdem Sartol als Verräter entlarvt worden war, hatte sie sich die Schuld daran gegeben, seinen Betrug nicht früher durchschaut zu haben. Endlich jedoch hatte sie eingesehen, dass sie keine größere Schuld trug als jeder andere Magier im Orden. Sartol hatte sie alle betrogen, und Alayna war zwar seine Schülerin gewesen und hatte ihn am besten gekannt, war dadurch aber auch seinen Lügen viel zugänglicher gewesen. Sie hatte zu ihm aufgeblickt; er war wie ein zweiter Vater für sie gewesen. Und sie hatte alles, was er ihr gesagt hatte, nicht nur für die Wahrheit gehalten, sondern für Weisheit, die er an sie weitergab. Aber jetzt, als sie nach so langer Zeit wieder an ihn dachte und die alte Angst verspürte, kehrte auch ein Teil der alten Schuldgefühle zurück.
Und Jaryd, der sie so gut kannte, sah das. Er ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Du weißt also, dass es nicht deine Schuld war, aber du fühlst dich trotzdem noch schuldig.« Sie lächelte müde. »Ja. So ähnlich.«
Er küsste sie und lächelte ebenfalls, aber dann wurde seine Miene wieder ernst. »Wir werden ihn aufhalten, Alayna. Wir haben ihn schon einmal aufgehalten, und wir werden es wieder tun.«
»Aber wie?«, fragte sie, schüttelte den Kopf und spürte, wie sie zu zittern begann. »Wenn es ihm gelungen ist, Therons Fluch irgendwie zu verändern, und er genügend Macht hat, uns auch noch als Geist heimzusuchen, wie können wir auch nur hoffen, dass wir ihn besiegen können?«
»Die Adler. Jetzt wissen wir, warum sie hier sind! Sie sind hier, um uns zu vereinen, um die Liga und den Orden wieder zusammenzubringen, damit wir uns Sartol gemeinsam stellen, und um uns Kraft und Mut zu geben, um ihn zu vernichten.«
»Wir alle zusammen waren schon letztes Mal kaum genug«, sagte sie. »Was, wenn er jetzt stärker ist?«
»Dann müssen wir auch stärker sein. Wir haben keine andere Wahl.« Er war immer ein leidenschaftlicher, willensstarker Mann gewesen. Das war einer der Gründe, wieso Alayna sich vor so vielen Jahren in ihn verliebt hatte.
Aber als sie ihm nun in die Augen sah, erkannte sie eine Entschlossenheit und Sicherheit, die sich von allem unterschied, was sie bisher bei ihm erlebt hatte. »Wir sind für ganz Tobyn-Ser verantwortlich«, sagte er. »Aber noch mehr als das, wir sind für Myn verantwortlich. Um sie zu retten, werde ich Sartol notfalls auch ganz allein vernichten.«
5
O ffensichtlich sind die Anführer aller großen Nals von Lon-Ser daran interessiert, Stabilität und Ordnung aufrechtzuerhalten. Wir leben, wie der kürzlich erfolgte Mordanschlag auf Shivohn, die Herrscherin von Oerella- Nal, zeigte, in unruhigen Zeiten. Nun hat Bragor-Nal durch den tragischen Tod von Herrscherin Melyor i Lakin einen ähnlich lähmenden Verlust erlitten. Die Bevölkerung ist in Trauer und Nachdenklichkeit versunken. In diesen Tagen gedenken wir unserer gefallenen Anführerin und all der Veränderungen, die sie bisher erreicht hat.
Aber es ist auch eine Zeit der Angst und Unsicherheit. Bragor-Nal braucht einen Anführer, der es durch diese Krise führen kann, der dem Volk des Nal die Sicherheit geben kann, die durch
Weitere Kostenlose Bücher