Die Chronistin
Schultern hatte sie sie gepackt.
»Nein, nein, nein! Ich habe mir von Sophia so viel erhofft! Ich dachte, an ihrer Seite würde... es nicht mehr so wehtun, an mein Leben zu denken. Aber das Alter hat ihr die Sinne geraubt. Verleugnet hat sie sich! Sich mit Absicht sentimental und weich gezeigt! Als ob sie nicht am allerbesten wüsste, dass dies einem Weib nicht gestattet ist, es sei denn, es gäbe sich verloren! Als ich darum kämpfte, endlich Frieden zu finden, habe ich mich von Berechnung leiten lassen, nicht von unnützen Gefühlen!«
Yolanthe stolperte. Sie hatte nicht geahnt, wie viel Kraft in Roesias Händen lag. Im nebeligen Land ihrer Erinnerungen tapsend, hatte sie sie sich so verwirrt, so träumerisch verhalten, und ihr Leib war nur das unbrauchbare Werkzeug eines verirrten Geistes gewesen. Nun, da sie langsam zu sich kam, schien jener alle verbleibenden Kräfte zu bündeln und in seine Hände zu legen. Sie schüttelten Yolanthe; sie griffen ihr an die Kehle.
»Lass mich in Ruhe! Verschwinde! Sprich nie wieder von Sophia und ihrer Chronik«, gellte Roesia.
»Roesia«, sprach Yolanthe auf sie ein und versuchte, ruhig zu bleiben. »Es hat keinen Sinn, dass du dich wehrst! Ich weiß, dass du Sophia getötet hast. Und ich weiß, dass du auch Cathérine und Gret getötet hast, weil sie die Chronik kannten, und Eloïse, weil sie dir auf die Schliche gekommen ist. Und ich bin nicht die Einzige, die davon weiß. Ich habe es allen erzählt, der Bischof ist verständigt. Einzig um dich zu schonen, habe ich sie gebeten, mich allein zu dir zu lassen.«
Solange sie sprach, stand Roesia starr, der Blick war verschwommen. Doch kaum hatte Yolanthe geendigt, packte sie wieder fester zu.
»Hör auf! Hör sofort auf! Das alles ist nicht geschehen!«
»Du kannst es nicht länger leugnen! Du musst dich der Wahrheit stellen!«
»Aber sie zählt nicht! Es zählt nicht, was ihr dummen, einfältigen, engstirnigen Weiber denkt.«
»Roesia, bitte!«
Yolanthe hatte gehofft, sie möge von selbst zur Räson kommen, und hatte sich darum nicht gewehrt. Nun, da Roesias Griff enger wurde, packte sie sie an den Handgelenken und versuchte, sie auseinander zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Roesia drückte auf ihren Kehlkopf, sodass sie selbst alsbald würgend nach Atem rang und das Gefühl hatte, die Zunge würde ihr im Gaumen anschwellen.
Wieder versuchte sie, Roesias Namen zu rufen. Doch zum einen brachte sie nichts zustande außer einem armseligen Röcheln, und zum anderen hatte sich jene in den tauben, blinden, stummen Winkel ihrer verdunkelten Seele zurückgezogen, wo niemand sie erreichen konnte.
Kapitel XX.
Anno Domini 1240
»Ihr dürft das nicht schreiben! Es ist gegen jegliches Gesetz! Niemals würde ein Mann von Verstand, Bildung und Besonnenheit solches schreiben. Weibergeschwätz, es ist alles nur dummes Weibergeschwätz!«
Roesia war in Aufruhr.
Drei Jahre waren seit dem ungeheuerlichen Vorfall vergangen, da Sophia ihre erste Chronik verbrannt hatte. Schwer nur hatte Roesia damals ihre Missbilligung verbergen können, sich jedoch damit getröstet gezeigt, dass Sophia alsbald eine neue zu schreiben begann, und darob verzichtet, ihr das schändliche Tun fortwährend anzukreiden.
Nun freilich, da sie die Pergamentseiten durchblätterte, entlud sich ihre Enttäuschung in einem Schwall böser Worte.
»Ihr seid nicht besser als alle Weiber!«, kreischte sie ohne jegliche Beherrschung. »All Euer Wissen, Eure Bildung, Eure Klugheit werft ihr fort für diesen... Plunder! Man wird Euch nicht länger Sophia, die Weise nennen – sondern Sophia, die schwatzsüchtige Alte, die unnütz von ihrem Leben plaudert...«
Am gestrigen Tage hatte sie gebeten, die vollendete Chronik lesen zu dürfen, und nur eine Nacht gebraucht, um das Werk zu studieren und sich darüber zu empören. Sophia reagierte zuerst nur mit Schweigen, dann, indem sie sich vorneigte, um die Hand der anderen zu ergreifen. Ihre eigene war ledrig geworden, war von Altersflecken übersät. An Daumen und Zeigefinger saßen dicke Schwielen, die sich vom stundenlangen Schreiben gebildet hatten.
»Ach Roesia«, setzte sie an. »Ich verleugne doch mein Wissen nicht, indem ich diese Chronik schrieb. Ich habe dich all die Jahre gelehrt – dank meiner kennst du jede Sentenz des Petrus Lombardus, kennst du selbst die Schriften derer, die viele Ketzer nennen: Abaelard, Dinant, Bène.«
»Und eben darum verstehe ich nicht, warum Ihr all diese unwichtigen Dinge
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