Die Chronistin
den Odem eines besonders begnadeten, heiligen Lebens einzuatmen, war enttäuscht gewesen, wenn sie auf die blind stierende, sprachlose und verfallene Frau gestoßen war. Ihr Leichnam aber, von einem seidigen, weichen Tuch verborgen, das ihr Gesicht nur in groben Konturen zeigte, widersprach keiner Mär, die anfangs von Kirchenmännern erzählt worden war, um König Philippe zu schaden, und später, nach Bouvines, um seinen Ruhm durch ein heiliges Eheweib zu vergrößern.
Sophia fühlte sich fehl am Platze. Sie ließ sich nicht im Kreise der Trauernden blicken und fand sich solcherart mit Gret vereint, die gleichfalls der Lebenden hatte nahe sein wollen, nicht aber der Toten.
»Nie habe ich’s glauben wollen, was die Priester von der Auferstehung des Fleisches sagen«, bekundete sie mit ihrer gehetzten Stimme und ihren zusammengekniffenen Augen. »Ich denke vielmehr, dass ihr Leib stets ein Gefängnis für ihre große Seele war.«
Sophia starrte sie zweifelnd an, glaubte in Isambours Fall nicht an den Leib als Gefängnis, sondern als Gefäß, dessen magerer Inhalt längst ausgeflossen war, aber sie erwiderte nichts.
Gret wartete auch nicht aufzustimmende Worte. »Siehst du«, sprach sie, und deutete auf die welken Rosen, die sie für Isambour gepflückt hatte, »sie ist verblüht wie die Blumen; sie braucht sie nicht mehr...«
Anstatt sie zu Boden fallen zu lassen, drückte sie sie in Sophias Hand. Gedankenverloren hielt die sie fest, indessen sie nach oben in jenen kleinen, aber lichtdurchfluteten Raum stieg, in dem sie las und schrieb. Sie legte die Rosen auf das Pult – die welken Blütenblätter waren dunkel wie Wein, die Halme fast grau.
Ich muss aufschreiben, dass Isambour gestorben ist, dachte sie, heute, am 30. Juli im Jahr des Herrn 1237, einstige Königin von Frankreich, Witwe von Philippe II., dem man nach Bouvines den Beinamen Augustus verliehen hat.
Sie griff nach der Feder, sie setzte sie auf das Pergament, sie hörte sie kratzen.
Isambour hat ihre Stimme wiedergefunden, schrieb sie. Sie hat meinen Namen gesagt. Sie hat mir vergeben, wiewohl ich nie um diese Vergebung gebeten habe...
Sophia ließ die Hand sinken, der Daumen schmerzte, obwohl sie viel mehr zu schreiben gewöhnt war.
Ich muss den Verstand verloren haben, dachte sie mit säuerlichem Lächeln.
Später, als die Nacht sich über das Stift senkte – es war die Letzte, in der Isambours sterbliche Überreste in Corbeil verbleiben sollten, morgen schon war ihr Geleit nach Saint-Denis vorgesehen – schlich Sophia doch noch in die Krypta, um Abschied zu nehmen. Festlich geschmückt war diese, nicht nur wegen Isambours Tod, sondern weil die Schwestern wenige Tage zuvor noch das Fest Anna matris Mariä gefeiert hatten.
Es war nach Mitternacht, und anstelle der vielen Schwestern hockte nurmehr eine im gelben Kerzenschein, auf dass die Tote keinen Augenblick alleine und der Macht der Unterwelt ausgeliefert sei. Freilich war es ein schlechter Dienst, den sie übte – denn der vornüber geneigte Kopf war nicht das Zeichen inbrünstigen Gebets, sondern übergroßer Müdigkeit. Leises Schnarchen tönte durch die Krypta.
Sophia trat zu der Aufgebahrten. Unter dem federleichten Tuch war die Haut nicht wächsern weiß, sondern bläulich verfärbt, als hätte man sie in den letzten Stunden vor dem Tod geprügelt.
»Man nennt dich jetzt zwar heilig«, murmelte Sophia, »und doch lässt man dich im Tod alleine, wie allzu oft zu Lebzeiten.«
Sophia zupfte gedankenverloren an den welken Rosen, die sie mit sich gebracht hatte, und ließ sie auf die Tote fallen, dunklen Blutstropfen gleich. Ohne darüber nachzusinnen, begann sie wahllos zu sprechen und zu erzählen, wie sie’s schon oft getan hatte – die Sprachlose nützend, die ihr zwar ihre Gegenwart schenkte, niemals jedoch Erwiderung, Ratschlag oder Bemerkung.
»Verwelkte Blumen sind also, was von dir bleibt«, setzte sie an. »Das wundert mich nicht. Denn Weiber wie du – ohne Worte und ohne Verstand – sind nutzlos und vergänglich. Zu nichts anderem taugst du, als Vorbild zu sein für jene jungen Mädchen, denen es als richtig angeraten wird, sich zu beugen und zu schweigen. Oh, dumme, dumme Isambour – wie konntest du zuletzt meinen Namen nennen, als Zeichen, dass du mir vertrautest? Ich bin doch die, die’s am wenigsten verdient.
Wusstest du denn nicht, dass auch ich dich immer nur benutzt habe – und sei’s am Ende nur für das eine: nicht der Einsamkeit anheim zu
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