Die Chronistin
umarmen.
Die beiden waren Schwester Mechthild und Schwester Griseldis – und man wusste von Mechthild, dass sie den Hunger fürchtete, und von Griseldis, dass ihr vor nichts so sehr graute wie vor der Finsternis. Sie lechzte nach Berührungen, um den grausamen Träumen, die in den Winkeln der Nacht auf sie warteten, warme Erinnerungen entgegenhalten zu können, und sie erkaufte sich das Streicheln ihres bleichen, aufgedunsenen Leibs, indem sie saftiges Brot verschenkte und manches Mal dunkelgelben Käse. Mechthild, die hager urid knochig war und nach jedem zusätzlichen Bissen gierte, ließ lieber zu, dass die andere sich unkeusch auf ihr wälzte, anstatt auf solche Gaben zu verzichten.
Sophia schrieb jede Einzelheit nieder – mit dem Griffel auf eine Wachstafel und in spitzen, feinen Buchstaben, welche Minuskeln hießen. Sie schrieb, wie Schwester Griseldis ob der Wärme stöhnte und auch, weil ihr Mechthilds spitze Knochen in den weichen Leib stachen, wie sie das Gesicht der anderen mit feuchten Küssen bedeckte und Mechthild jene schnell mit dem rauen Ärmel ihrer grauen Kutte wegwischte. Sie schrieb, dass diese Ärmel noch vom geschlachteten Schwein trieften und sich Mechthilds Wangen deshalb rot färbten, dass das Blut trocknete und Mechthilds Hand versehentlich unter den Kadaver des Schweins rutschte, der noch wärmer und glitschiger war als Griseldis’ warmer Leib. Unsanft stieß Mechthild jenen schließlich zurück. »Das muss reichen!«, murrte sie, und die warme Luft ihres Atems stob wie grauer Nebel in den kalten Novembertag. Hastig strich sie über ihr Gewand, das ihr zu groß und zu weit war, nicht nur weil sie zu mager war, sondern auch weil sie das Frauenalter noch nicht erreicht hatte.
Griseldis seufzte enttäuscht, schnaufte die Tröpfchen fort, die sich unter der knolligen Nase gebildet hatten, und hob suchend die Hände. Mechthild schlug sie grob beiseite, um dann im Gewand der anderen nach Nahrung zu stöbern.
»’s ist nur Brot für das wenige, was du mir heute gabst«, knurrte Griseldis, nicht nur enttäuscht über die Kürze der Umarmung, sondern schadenfroh, weil sie den Lohn dafür gering halten konnte. »Willst du morgen früh warme Milch, so komm in der Nacht in meine Zelle.«
»Das ist verboten, und du weißt es!«, zischte Mechthild ungehalten.
»Genauso ist verboten, was wir eben getan haben.«
Hernach schwiegen sie, weil die eine ihr Essen hinunterwürgte und die andere sich schnaufend erhob. Dies war der Schluss von jenem Ereignis, das Sophia aufschrieb, und als ihre Augen hurtig über das Geschriebene wanderten, es aufaßen wie Mechthild das trockene Brot und der Tiefe der Erinnerung einverleibte, wusste Sophia, dass sie es niemals wieder vergessen würde.
Als wankelmütig erwies sich das Gesprochene und Gesehene und Gehörte; stets war es bereit, mit dem rauen Ostseewind in die farblose Weite zu fahren. Was jedoch geschrieben stand, war festgehalten auf immer. Die Schrift war Sophias größter Besitz. Sie merkte sich jedes geschriebene Wort – was gleichsam hieß, dass sie sich alles merkte, was sich niederschreiben ließ.
Oft hatte sich Dorothea, Sophias gleichaltrige Gefährtin im Kloster, darüber erregt, dass auf die Beobachtung ihrer Augen kein Verlass wäre.
»Siehst du«, sagte Dorothea und stupste sie an, wenn Griseldis sich an Mechthild verging oder eine andere der Nonnen zu lange die Kerzen brennen ließ oder wieder eine andere nicht zu reden aufhören wollte, obwohl doch alle wussten, dass sich Gott mit der Stille mehr preisen lässt als mit nutzlosem Geschwätz.
Sophia folgte dem aufgeregten Blick, dem erhobenen Zeigefinger und selbst dem Getuschel – nicht aus Neugierde, sondern, um der anderen zu gefallen. Doch kaum war entschwunden, was sich eben noch spöttisch bestaunen ließ, schien es auch aus ihren Gedanken gefegt.
Ungeduldig verdrehte Dorothea dann die Augen. »Es ist doch nicht möglich, dass du’s nicht mehr weißt!«, rief sie enttäuscht darüber, dass sich das Tuscheln nicht vertiefen ließ, sondern an Sophias Gleichgültigkeit den Geschmack verlor.
Um die andere nicht fortwährend zu verstören (es gab von diesem Alter nur sie beide im Kloster, und es war in den langen Nächten gut, eine Vertraute in der Nähe zu ahnen), griff Sophia zum Mittel, die Erinnerung nicht nur für kurze, gedankenlose Augenblicke zu bewahren, sondern für alle Zeiten. Sie erprobte im Skriptorium die Schönschrift wie stets, aber sie schrieb nicht ab, was man
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