Die Chronolithen
meinerseits.« Doch Sues Augen hatten mich nicht losgelassen. »Seltsam, dir ausgerechnet hier in die Arme zu laufen, Scotty.«
»Findest du?«
»Komisch. Hat vielleicht etwas zu bedeuten. Oder auch nicht. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.«
Ich fühlte mich geschmeichelt. Ich hätte mich nur zu gerne mit ihr unterhalten. Großspurig reichte ich ihr meine Visitenkarte.
»Nicht nötig«, sagte sie. »Ich finde dich, wenn ich dich brauche, Scotty. Keine Bange.«
»Meinst du?«
Doch sie war bereits in der Menge verschwunden.
»Du hast gute Beziehungen«, sagte Annalie auf der Heimfahrt.
Aber das stimmte nicht. (Sue rief nicht an – nicht in diesem Jahr – und meine Anstrengungen, sie zu erreichen, liefen ins Leere.) Ja, ich hatte Beziehungen, keine guten, aber auch keine x-beliebigen. Sue Chopra in die Arme zu laufen, war ein Omen, so wie diese Frau in der Hochbahn; doch die Bedeutung war mir ein Rätsel, eine Prophezeiung in einer nicht zu entziffernden Sprache, ein Signal versteckt im Rauschen.
In Arnie Kundersons Büro gerufen zu werden, bedeutete nichts Gutes. Er war mein Vorgesetzter, seit ich bei Campion-Miller war, und ich wusste: Gab es gute Nachrichten, brachte er sie. Musste man zu ihm, musste man mit dem Schlimmsten rechnen.
Ich hatte ihn wütend erlebt, vor kurzem, als das Team, das ich leitete, ein Order-sort-and-mail-Protokoll versiebt hatte, was uns beinahe den Vertrag mit einer landesweiten Einzelhandelskette gekostet hätte. Aber als ich an diesem Tag sein Büro betrat, wusste ich, dass es sich um etwas noch Ernsteres handelte. Wenn Arnie wütend war, dann kochte er, lief rot an. Heute saß er hinter seinem Schreibtisch mit der Miene eines Mannes, der eine scheußliche, aber unumgängliche Pflicht zu erfüllen hat – der Miene eines, sagen wir, Bestattungsunternehmers. Er vermied jeden Blickkontakt.
Ich zog mir einen Sessel heran und wartete. Wir gingen ganz normal miteinander um. Jeder war zum Grillen beim anderen gewesen.
Er faltete die Hände und sagte: »Es gibt Dinge, die kann man noch so schön verpacken. Was ich sagen will, Scott: Campion-Miller wird Ihren Vertrag nicht erneuern. Er wird aufgelöst. Das ist die offizielle Kündigung. Ich weiß, das kommt ohne jede Vorwarnung, und es tut mir weiß Gott furchtbar Leid, Ihnen das sagen zu müssen. Sie bekommen natürlich die volle Abfindung und großzügige Ausgleichszahlungen für die restlichen sechs Monate.«
Ich war scheinbar nicht so bestürzt, wie Arnie erwartet hatte. Der wirtschaftliche Zusammenbruch in Asien hatte große Teile der Auslandsmärkte wegbrechen lassen. Noch im letzten Jahr war die Firma von einem multinationalen Konzern aufgekauft worden, dessen Management ein Viertel der Belegschaft entlassen und die meisten Tochtergesellschaften von CM zum Bodenwert veräußert hatte.
Ich fühlte mich ein bisschen wie jemand, der in einen Hinterhalt geraten ist.
Die Arbeitslosigkeit war hoch in diesem Jahr. Die Oglalla-Krise und der Zusammenbruch der asiatischen Wirtschaft hatten eine Menge Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Fünf Häuserblocks weiter, gleich hier am Fluss, gab es eine Zeltstadt. Ich sah mich schon da hausen.
Ich sagte: »Setzen Sie das Team in Kenntnis oder soll ich das übernehmen?«
Mein Team arbeitete an Software, die Marktprognosen erlaubte, eine von CMs lukrativeren Produktlinien. Es ging insbesondere darum, in Applikationen, die Verbraucherverhalten und Preisentwicklung modellierten, echte statt empfundener Zufälligkeit zu implementieren.
Sagt man einem Computer, er soll zwei beliebige Zahlen zwischen eins und zehn nennen, dann wird er Zahlen in einer echten Zufallssequenz ausgeben – vielleicht 2 und 3; vielleicht 1 und 9 und so weiter. Bittet man eine Reihe Menschen dasselbe zu tun und notiert ihre Antworten, dann erhält man eine Verteilung, die deutlich 3 und 7 favorisiert.
Wenn Menschen das Wort Zufall hören, denken sie an »unauffällige« Zahlen – nicht zu dicht an den Grenzen und auch nicht genau in der Mitte; sie dürfen auch nicht Teil einer unterstellten Sequenz sein (2, 4, 6)…
Mit anderen Worten, es gibt etwas, das man intuitive Zufälligkeit nennen könnte, und die unterscheidet sich beträchtlich von der richtigen.
War es denkbar, diesen Unterschied zu unserem Vorteil auszunutzen? In umfangreichen kommerziellen Anwendungen, bei denen es zum Beispiel um Wertpapierbestände oder Marketing oder Produktpreisplatzierung ging?
Wir gingen davon aus, dass wir ein
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