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Die Chronolithen

Die Chronolithen

Titel: Die Chronolithen Kostenlos Bücher Online Lesen
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Nachrichtensender strahlten sie immer wieder aus, unterlegt mit einem akustischen Schleier aus geschätzten Opferzahlen und bedeutungslosen »Interpretationen«. Die greifbare Atmosphäre aus Verwirrung, Angst und Skepsis, die aus den Kommentatoren sprach, legte Kaits Stirn noch ein paar Minuten länger in Falten; dann fielen ihr die Augen zu, und ihr Atmen ging in zierliche, teilnahmslose Schnarchtöne über.
    Wir waren da, Kait, du und ich.
    Aus der Luft erinnerte das zerstörte Bangkok an den Fehldruck einer Straßenkarte. Ich erkannte den Chao Phrya, der sich durch die Stadt krümmte, und den verwüsteten Rattanakosin-Distrikt, die alte Königsstadt, wo der Khlong Lawd [vii] in den größeren Fluss mündete. Der grüne Fleck konnte der Lumphini Park sein. Doch das Straßennetz war nur mehr eine undefinierbare Wüste aus Steinen und Armierungen, Blech und Pappe und frostbedingten Asphaltverwerfungen, und alles glitzerte vor Eis und war von Nebel überwuchert. Das Eis hatte nicht verhindert, dass viele offene Gasleitungen Feuer gefangen hatten, flammende Inseln im eisigen Trümmerhaufen. Hier seien sehr, sehr viele Menschen ums Leben gekommen, unterstrichen die Kommentatoren unermüdlich. Einige der sackartigen Objekte, die auf den Straßen herumlagen, waren wohl menschliche Leichen.
    Das einzige intakte Bauwerk zwischen hier und den Vororten stand genau im Zentrum der Katastrophe: der Chronolith selbst.
    Er sah anders aus als der Chumphon-Chronolith. Er war höher, gewaltiger, komplizierter geformt und kunstvoller ausgestaltet. Was ich sofort wiedererkannte, war die durchscheinend blaue Oberfläche, die an Stellen zutage trat, wo der Frost abbröckelte, dieses unverkennbare, unnahbare Material.
    Explosionsartig aufgetaucht war das Monument nach Einbruch der Dunkelheit, Bangkok-Zeit, versteht sich. Diese Aufnahmen waren Stunden später entstanden, ein paar noch in der chaotischen Nacht, die jüngsten am Morgen. Mit der Zeit übertrugen die Nachrichtensender mehr Luftaufnahmen. Man konnte nun den neuen Chronolithen in einer Art Puzzle sehen: Während er nämlich den Mantel aus kondensierter und gefrorener Feuchtigkeit verlor, verwandelte er sich zusehends von der scheinbar gigantischen, seltsam unförmigen, weißen Säule in das, was er tatsächlich war – eine stilisierte menschliche Gestalt.
    Man fühlte sich sofort an die gigantischen Denkmäler des stalinistischen Russlands erinnert; die geflügelte Siegesgöttin von Leningrad zum Beispiel. Oder den Koloss von Rhodos, wie er breitbeinig über der Hafeneinfahrt stand. Solche Denkmäler schüchtern nicht bloß wegen ihrer enormen Größe ein, sondern weil sie so unpersönlich wirken. Das hier war nicht das Abbild, sondern die Abstraktion eines Menschen, selbst das Gesicht suggerierte eine eurasische Vollkommenheit, wie sie bei wirklichen Menschen nicht vorkam. Auf den Augenwölbungen und in den Nasenlöchern klebte noch Eisschorf. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Männlichkeit hätte die Statue jeden Menschen darstellen können. Zumindest jeden, in dem grenzenloses Selbstvertrauen und absolute Macht eine stille Allianz bildeten.
    Kuin, nehme ich an, wie er wollte, dass man ihn sah.
    Sein Torso verschmolz mit dem säulenförmigen Sockel. Der Fuß des Chronolithen, etwa eine Viertelmeile im Durchmesser, grätschte über den Chao Phrya. Wo er auf Wasser traf, hatten sich dünne Eisschichten gebildet, die in der Sonne abbrachen und flussabwärts trieben, Treibeis in den Tropen, das in die gekenterten Touristenboote stieß.
    Um zehn rief Janice an und wollte wissen, was ich mit Kait unternommen hatte. Ich sah auf die Uhr, knirschte mit den Zähnen und entschuldigte mich. Ich erklärte ihr, wie wir den Tag verbracht hatten und wie ich mich von dem Bangkok-Chronolithen hatte ablenken lassen.
    »Von dem Ding?«, sagte sie, als sei die Sache bereits Schnee von gestern. Und für Janice mochte das zutreffen: Sie hatte die Chronolithen bereits zu einer diffusen symbolischen Bedrohung verarbeitet, etwas Schreckliches, das weit weg war. Sie schien nicht glücklich, dass ich es zur Sprache gebracht hatte.
    »Ich kann Kaitlin noch heute Nacht zurückfahren«, sagte ich, »oder sie bis morgen früh hierbehalten, wenn dir das lieber ist. Sie liegt auf dem Sofa und schläft.«
    »Gib ihr ein Kissen und eine Decke«, sagte Janice, als wären mir solche Gedanken fremd. »Sie könnte genauso gut durchschlafen, was meinst du?«
    Ich machte es noch besser: Ich trug Kaitlin ins Bett

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