Die Chronolithen
das nicht so ermutigend aus.
Während sich die Expedition dem Stadtzentrum näherte, war der Chronolith in jeder Einstellung präsent: Aus der Ferne beherrschte er den braunen Fluss, aus der Nähe ragte er in den tropischen Mittag.
Das Monument war auffallend sauber. Selbst Vögel und Insekten mieden es. Staub hatte sich in den wenigen windgeschützten Spalten des Gesichts gesammelt, ließ den geistesabwesenden Blick von Kuin eine Spur weicher scheinen. Aber selbst in diesem geschützten Nährboden wuchs nichts; das Monument war absolut steril. Wo es an einem Flussufer aufsaß, hatten ein paar Kletterpflanzen versucht, den riesigen achtkantigen Sockel zu erklimmen; doch die spiegelglatte Oberfläche bot keinerlei Halt, war abweisend.
Die Expedition ging in Flussmitte vor Anker und man stieg ans Ufer, um noch mehr Bildmaterial zu sammeln. In einer solchen Sequenz fegte ein Unwetter über die uralte City. Sturzbäche kamen den Chronolithen herunter, kleine Wasserfälle wühlten Schlammwolken vom Grund des Flusses auf. Die dockseitigen Händler deckten ihre Stände mit Planen und Kunststofffolien ab und suchten Schutz darunter.
Harter Schnitt zu einem wilden Affen auf einer zusammengebrochenen Exxon-Reklametafel, der den Himmel anblaffte.
Die Wolken rings um den vorspringenden Teil von Kuins Riesenschädel rissen auseinander.
Nahe am grünen Horizont brach die Sonne hervor, der Schatten des Chronolithen fiel wie der Zeiger einer gigantischen, trostlosen Sonnenuhr über die Stadt.
Es kam noch mehr, aber nichts Aufschlussreiches. Ich schaltete ab und ging schlafen.
Wir im Westen hatten uns inzwischen auf bestimmte Begriffe geeinigt, um die Chronolithen zu beschreiben. Sie tauchten auf oder kamen an… obgleich manche das Verb aufsetzen vorzogen, als handle es sich um eine Art landenden Senkrechtstarter. Der jüngste Chronolith war vor mehr als achtzehn Monaten aufgetaucht (angekommen, gelandet) und hatte das Hafenviertel von Macao eingeebnet. Nur ein halbes Jahr zuvor hatte ein ähnliches Monument Taipeh zerstört.
Beide Denkmäler »erinnerten« wie üblich an militärische Siege, die ungefähr zwanzig Jahre in der Zukunft stattfanden. Dreiundzwanzig: mitnichten eine menschliche Lebensspanne, aber lange genug für Kuin (so er existierte, so er mehr war als nur ein gesponnenes Symbol oder eine Abstraktion), um eine Streitmacht für seine mutmaßlichen Eroberungen in Asien aufzustellen. Lange genug für ein junges Mädchen, um eine junge Frau zu werden.
Aber über ein Jahr lang war nirgends auf der Welt ein Chronolith angekommen und manche von uns hatten sich glauben gemacht, die Krise sei, wenn schon nicht richtig vorüber, so doch lediglich eine asiatische – geographisch begrenzt, durch die Meere in Schranken gehalten.
Unsere öffentlichen Auslassungen waren freimütig und distanziert. Ein Großteil Südchinas stagnierte in einem politischen und militärischen Chaos, war ein Niemandsland, in dem Kuin womöglich schon dabei war, Gefolgsleute um sich zu scharen. Und ein Leitartikel in der Zeitung vom Vortag hatte gefragt, ob sich Kuin nicht auf lange Sicht als positive Kraft herausstellen könnte: Nun sei ein Kuin-Imperium wohl kaum eine wohlwollende Diktatur, doch es könne durchaus wieder Berechenbarkeit in eine bedrohlich instabile Region bringen. Was noch von der ramponierten Beijing-Bürokratie übrig war, hatte bereits versucht, den sogenannten Kuin von Yichang aus dem letzten Jahr mit einer taktischen Nuklearwaffe zu zerstören und war kläglich damit gescheitert. Ergebnis war ein Dammbruch und eine Flut gewesen, die radioaktiven Schlamm bis ins Ostchinesische Meer gespült hatte. Und wenn ein verstümmeltes Beijing zu so etwas fähig war, wie sollte man da ein Kuin-Regime fürchten?
Ich hatte dazu keine Meinung. Wir alle waren Ignoranten damals, auch die Interessierten, die die Chronolithen analysierten (nach Datum, Größe, Eroberung und dergleichen), damit wir so tun konnten, als verstünden wir sie. Ich habe da nie mitgemacht. Seit es mit meiner Ehe bergab gegangen war, hatten die Chronolithen mein Leben überschattet. Sie standen geradezu für alle unheilvollen und unberechenbaren Mächte der Welt. Es gab Zeiten, da sie mir tiefe Angst einjagten. Und ich habe diese Angst auch zugelassen – ganz oft.
Ist das eine fixe Idee? Annalie war der Meinung.
Ich versuchte Schlaf zu finden. Schlaf, der des Grams verworrn Gespinst entwirrt… [xi] Schlaf, der die Pause zwischen Mitternacht und
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