Die Chronolithen
Sie schien sich richtig zu freuen.
»Na, und du? Irgendwas Aktuelles?«
»Nö«, sagte sie. »Ich lebe allein. Es gibt da jemanden, den ich ab und zu sehe, aber das ist keine Beziehung.« Sue schlug die Augen nieder und setzte hinzu: »Sie ist Dichterin. Eine von den Dichterinnen, die tagsüber im Laden stehen. Ich bring es nicht fertig, ihr zu sagen, dass das FBI sie bereits duchleuchtet hat. Sie würde explodieren. Egal, sie hat noch mehr Bekannte. Wir sind nicht monogam. Polyamourös. Meistens sind wir nicht mal zusammen.«
Ich hob mein Glas. »Merkwürdige Zeiten.«
»Merkwürdige Zeiten. Skol. Übrigens, ich höre, du sprichst nicht mehr mit deinem Vater?«
Ich hätte mich fast verschluckt.
»Hab dein Telefonprotokoll gesehen«, erklärte sie. »Die Anrufe sind von ihm. Sie dauern nicht länger als dreißig Sekunden.«
»Das ist eine Art Spiel«, sagte ich. »Wer als Erster auflegt. Verdammt, Sue, das sind private Dinge.«
»Er ist krank, Scotty.«
»Klär mich auf.«
»Nein, wirklich. Von den Ephysemen weißt du wahrscheinlich. Aber er war beim Onkologen. Leberkrebs, therapieresistent, metastatisch.«
Ich legte die Gabel hin.
»O Scotty«, sagte sie. »Es tut mir Leid.«
»Du siehst, ich kenne dich nicht.«
»Natürlich kennst du mich.«
»Ich kannte dich vor sehr langer Zeit. Nicht näher. Ich kannte eine Junior-Akademikerin, keine Frau, die meinen Rausschmiss betreibt – und mein Telefon abhört.«
»Es gibt schon lange keine Privatsphäre mehr, nicht wirklich.«
»Er stirbt, hast du gesagt?«
»Wahrscheinlich.« Sie bekam ein langes Gesicht, als sie merkte, was sie gesagt hatte. »O Gott – verzeih mir, Scotty. Ich rede, bevor ich denke. Als wär ich am Autismus vorbeigeschrammt.«
Das zumindest wusste ich über sie. Ihr Defekt, da bin ich mir jetzt sicher, ist genetisch bedingt und hat längst einen Namen: ein latentes Unvermögen, die Gefühle anderer zu lesen oder vorauszusehen. Und sie redete für ihr Leben gern – zumindest damals.
»Geht mich nichts an«, sagte sie. »Du hast Recht.«
»Ich brauche keine Ersatzmutter. Ich weiß nicht mal, ob ich diesen Job noch will.«
»Scotty, ich war es nicht, der dich hat abhören lassen. Und Davonlaufen ist zwecklos. Ob du den Job annimmst oder nicht, dein Leben wird nie mehr in normalen Bahnen verlaufen. Aus diesem Zug bist du ausgestiegen, damals in Chumphon.«
Mein Vater stirbt, dachte ich.
War mir das egal?
Wieder im Auto, sagte Sue reumütig: »Lieg ich so falsch, wenn ich sage, dass wir beide Schwierigkeiten haben? Dass die Chronolithen unser Leben bestimmt haben, ohne dass wir daran etwas ändern können? Aber ich versuche das Beste daraus zu machen, Scotty. Ich brauche dich hier, und ich glaube, die Arbeit wird dir besser gefallen als das, was du bisher gemacht hast.« Sie überfuhr eine Gelbphase, schielte auf den blinkenden Verweis in ihren Armaturen. »Liege ich falsch, wenn ich unterstelle, dass du eigentlich ganz gerne mit dabei wärst?«
Nein, aber die Genugtuung, es aus meinem Mund zu hören, gönnte ich ihr nicht.
»Außerdem…« Wurde sie rot? »Ehrlich, ich würde mich riesig freuen über deine Gesellschaft.«
»Du hast bestimmt eine Menge Gesellschaft.«
»Ich habe Kollegen, keine Gesellschaft. Nicht wirklich. Außerdem ist das Angebot gar nicht mal so schlecht. Nicht in einer Welt wie dieser.« Sie fügte beinah schüchtern hinzu: »Und du wirst reisen. Fremde Länder kennen lernen. Wunder bestaunen.«
Stranger than Science.
SECHS
Wie bei Bundesbehörden nicht anders zu erwarten, ließ man mich geschlagene drei Wochen zappeln. Sulamith Chopras Arbeitgeber brachte mich in einem Motelzimmer unter, und das war’s dann schon. Meine Anrufe bei Sue wurden von einem Beamten namens Morris Torrance abgefangen, der mir den Rat gab, mich in Geduld zu üben. Der Zimmerservice war frei, doch der Mensch lebt nicht vom Zimmerservice allein. Solange ich nicht etwas Langfristiges unterzeichnet hatte, wollte ich mein Apartment in Minneapolis nicht aufgeben, und jeder Tag, den ich in Maryland verbrachte, war ein fiskalischer Nettoverlust.
Das Motelterminal wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angezapft, und das FBI war vermutlich in der Lage, mein Notebook zu lesen, noch ehe mein Signal den Satelliten erreichte. Nichtsdestoweniger tat ich, was man vermutlich von mir erwartete: Ich fuhr fort, Kuin-Daten zu sammeln und befasste mich ein bisschen näher mit Sues Publikationen.
Sie hatte zwei
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