Die Chronolithen
ganze Menge von dem, was ich neulich sehen durfte, modelliert die Auswirkungen von Erwartungen auf das Massenverhalten. Wendet Feedback- und Rekursionstheorie sowohl auf physikalische Ereignisse als auch auf menschliches Verhalten an.«
»Ich bin ein kleiner Programmierer, Sue. Ich will erst gar nicht so tun, als verstünde ich die Algorithmen, die ich da gezüchtet habe.«
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Das ist bahnbrechende Arbeit. Und es wäre offengestanden viel schöner, wenn du sie für uns machen würdest.«
»Ich frage mich die ganze Zeit: Bist du an meiner Arbeit interessiert oder an der Tatsache, dass ich in Chumphon war?«
»An beidem. Ich glaube nicht an diesen Zufall.«
»Aber es ist Zufall.«
»Ja, im herkömmlichen Sinne, aber… o Scotty, das kann man nicht alles per Telefon bereden. Du musst unbedingt herkommen.«
»Sue…«
»Du willst mir sagen, du fühlst dich, als hätte ich dich mit dem Kopf in den Mixer gesteckt. Du willst mir sagen, du kannst so eine Entscheidung jetzt nicht treffen, weil du im Schlafanzug dastehst und Dosenbier trinkst und dir selbst Leid tust.«
Ich trug Jeans und Sweatshirt. Das andere stimmte.
»Also entscheide dich jetzt nicht«, sagte sie. »Aber komm unbedingt nach Baltimore. Auf meine Kosten. Dann können wir reden. Ich organisiere das.«
Eine der hervorstechendsten Eigenschaften von Sulamith Chopra ist, dass sie tut, was sie sagt.
Baltimore war schwerer von der Rezession betroffen als Minneapolis/Saint Paul. Anfang des Jahrhunderts hatte sich die Stadt tapfer geschlagen, doch die City hatte ihren kurzen Glanz von Wohlstand verloren, war zu leerstehenden Ladenfronten, geborstenen Plasmadisplays und Reklametafeln verkommen, deren Farben durch Sonne und Wetter verblasst waren.
Sue parkte auf der Rückseite eines kleinen mexikanischen Restaurants und eskortierte mich nach drinnen. Sie war beim Personal bekannt und wurde mit Namen begrüßt. Unsere Kellnerin sah aus, als sei sie einer Mission aus dem 17. Jahrhundert entsprungen, zählte aber in einem gestutzten New-England-Akzent die Tagesspezialitäten auf. Sie lächelte Sue auf eine Weise an wie ein Pächter seinen wohlwollenden Grundbesitzer anlächelt – vermutlich gab Sue immer ein großzügiges Trinkgeld.
Wir plauderten eine Zeit lang über dies und das – aktuelle Ereignisse, die Oglalla-Krise, den Pemberton-Prozess. Sues Versuch, den alten Umgangston zwischen uns wiederherzustellen, den Ton familiärer Vertrautheit, den sie mit all ihren Studenten an der Cornell-Universität gepflegt hatte. Sie hatte es nie gemocht, als Autorität behandelt zu werden. Sie beugte sich niemandem und wollte niemand sein, dem man sich beugte. Sue war so altmodisch, sich arbeitende Wissenschaftler als gleichwertige Prozessparteien vor der absoluten Schranke der Wahrheit vorzustellen.
Seit Cornell, erzählte sie, habe das Chronolithenprojekt sie immer mehr beansprucht; es sei praktisch zu ihrem Beruf geworden. Sie hatte wichtige theoretische Aufsätze publiziert, aber jedes Mal das Placet der National Security einholen müssen. »Und die wichtigste Arbeit, die wir geleistet haben, darf und kann gar nicht publiziert werden, weil wir sonst Gefahr laufen, Kuin in die Hände zu spielen.«
»Also weißt du mehr, als du sagen kannst?«
»Ja, viel mehr… aber nicht genug.« Die Kellnerin brachte Reis mit Bohnen. Sue kaute an ihrem Lunch, die Stirn in Falten. »Ich weiß auch von dir, Scotty. Du hast dich von Janice scheiden lassen oder umgekehrt. Deine Tochter lebt jetzt bei ihrer Ma. Janice hat wieder geheiratet. Du hast fünf Jahre lang gute, aber extrem beschränkte Arbeit bei Campion-Miller hinter dir, was eine Schande ist, denn du gehörst zu den gescheitesten Leuten, die ich kenne. Kein Rollstuhlgenie, aber blitzgescheit. Du kannst mehr.«
»Das hat man mir immer schon ins Zeugnis geschrieben: kann mehr.«
»Bist du je über Janice hinweggekommen?«
Sue stellte intime Fragen und klang dabei brüsk wie ein Zöllner. Sie schien gar nicht auf die Idee zu kommen, jemand könne Anstoß nehmen.
Folglich keinen Anstoß genommen. »Im Großen und Ganzen, ja.«
»Und das Mädchen? Kaitlin, richtig? Gott, ich weiß noch, wie Janice schwanger war. Dieser mächtig dicke Bauch. Als hätte sie einen VW-Beetle geklaut.«
»Kait und ich, wir kommen gut miteinander aus.«
»Du liebst deine Tochter immer noch?«
»Ja, Sue, ich liebe sie immer noch.«
»Natürlich tust du das. Sonst wärst du nicht Scotty.«
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