Die Cromwell Chroniken: Kaltes Feuer
Jungfrau.“
Gelächter ging durch die Klasse. Linda machte ein verlegenes Gesicht und nickte leicht.
„Heidelberg ist eine sehr schöne Stadt. Vor allem der Schlossberg ist ein herrliches Ausflugsziel. Ich hoffe, Sie werden sich hier in Cromwell wohlfühlen, Linda.“
Linda konnte das wohlwollende Lächeln der Professorin spüren und erwiderte es dankbar.
„Welche Talente haben sich bei Ihnen in der Pubertät herausgestellt?“
„Ich bin eine Seherin.“
Wieder brach die Klasse in Gelächter aus. Eine blinde Seherin war offensichtlich zu viel des Guten. Wäre sie eine von ihnen gewesen, hätte sie sich das vermutlich genauso wenig vorstellen können.
Sie lächelte matt.
Die Farben in Prof. Foirenstons Aura verrieten ihr, dass sie einigen Studenten einen warnenden Blick zuwarf. Dieser brachte selbst die Lautesten zum Schweigen.
„Ich besitze meine Kräfte schon von klein auf“, fuhr Linda in ihrer ruhigen Art fort.
Auf einmal verstummten die Studierenden. Die magischen Talente eines Begabten traten eigentlich erst mit dem Erwachsenwerden zu Tage. Das war sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen der Fall. Die Gabe bereits als Kind zu erhalten, war etwas völlig Neues für die Anwesenden. Wie viel Übung sie schon haben musste!
Linda spürte Staunen, Ungläubigkeit und Bewunderung. Sie unterdrückte ein Seufzen. In der Grundschule hatte sie es einmal nicht ausgehalten und einer Klassenkameradin von ihren Fähigkeiten berichtet. Die hatte sie schlicht und ergreifend ausgelacht. Linda war erst verdutzt gewesen, doch dann hatte sie sich damit abgefunden. Es war verständlich, dass ihre früheren Mitschüler ihr nicht glaubten, wenn sie sagte, sie sei eine begabte Seherin. Doch hier, in einer Hexenschule, hätte sie etwas mehr erwartet.
Als hätte die Dozentin ihre Gedanken erraten, fragte sie: „Möchten Sie uns an Ihrer Gabe teilhaben lassen?“
Linda nickte entschlossen.
„Sehr gerne sogar.“
Kein Geräusch drang durch das Zimmer. Nur ihr Blut rauschte in ihren Ohren.
Was, wenn mich die Gabe jetzt im Stich lässt? Wie stehe ich dann vor den anderen da? Und was soll ich überhaupt vorführen? Vielleicht erwarten die anderen etwas, was ich noch gar nicht kann? Das ist immerhin mein erster Tag hier …
Wieder kam ihr Foirenston zur Hilfe.
„Sie haben Ihre Gabe schon sehr lange. Sind Sie womöglich bereits in der Lage, sich meine Sinne zu leihen?“
Linda wäre fast ohnmächtig geworden vor Erleichterung. Das Ausleihen beherrschte sie schon seit Jahren fehlerfrei. Lediglich bei Tieren hatte sie noch Schwierigkeiten.
„Wenn ich mir Ihre Augen leihen dürfte, dann könnte ich der Klasse den Raum beschreiben.“
Das Leihen der Sinne einer anderen Person erforderte für diesen Zeitraum eine enge Bindung zu ihr. Bei ihrer Professorin hatte Linda keine Bedenken. Sie mochte Prof. Foirenston auf Anhieb und fühlte sich durch ihre rustikale Art sicher.
Die Dozentin trat vor Linda an den Tisch und nahm ihre Hände. Dann führte sie die Zeige- und Mittelfinger der jungen Frau an ihre eigenen Schläfen. Das Berühren des Kopfes war für das Leihen des Sehsinns zwar nicht nötig, aber es erleichterte die Sache.
Sie kennt sich mit meiner Gabe aus , schoss es der Studentin durch den Kopf.
Linda schloss die Augen und atmete mehrmals langsam ein und aus.
Jetzt einfach nur noch entspannen. Na ja, gar nicht mal so einfach, wenn der ganze Kurs einen beobachtet.
Langsam öffnete sie sich gegenüber den feinstofflichen Schwingungen um sich herum. Sie konnte die magische Aura ihrer Professorin wahrnehmen. Meine Güte! Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie mächtig diese Hexe war! Kein Wunder, dass man sie zur Konrektorin ernannt hatte. Es hätte mehr als nur eine Klasse von magischen Studenten bedurft, um sie zu überrumpeln.
Der starke Fluss der Magie war ungewohnt für die junge Seherin. Als würde sie zum ersten Mal in einem Ozean schwimmen anstatt im Hallenbad. Plötzlich aber ebneten sich die Wellen für sie, öffneten einen geraden Weg zu den Augen der Professorin. Linda wusste, dass die ihr absichtlich half, und sie war ihr mehr als dankbar dafür. Sie konnte fühlen, dass ihre eigene Magie nach den Augen der Professorin griff, und – sie konnte sich selbst sehen!
Es war einfach zu komisch, sich selbst mit den Augen einer anderen Person zu betrachten. Da Prof. Foirenston recht groß war, blickte sie leicht auf sich herab. Sie wirkte geradezu schmächtig und blass. Behutsam drehte sie den Kopf der
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