Die Daemmerung
Spießgeselle ...«
Brionys Zorn war so jäh und so heftig, dass für einen Moment Schwärze ihren Kopf flutete und sie zu sterben glaubte. »Das
wagt
er zu behaupten? Dass ich ...« Ihr Mund schien voller Gift — sie wollte ausspucken. »Sein Herr, Hendon,
hat
seinen eigenen Bruder getötet — wahrscheinlich kommt er deshalb auf die Idee? Er erzählt herum, Shaso und ich seien ein
Liebespaar
gewesen?« Sie sprang auf. Es kostete sie alle Mühe, nicht ihr Stickzeug zu schnappen und hinauszurennen, um Jenkin Krey eine Nadel ins Auge zu rammen. »Dieses schändliche ... Schwein? Schlimm genug, den alten Mann zu beleidigen, der sein Leben gab, um mich in Sicherheit zu bringen, aber zu behaupten, ich würde ... ich hätte meinen geliebten Brüdern etwas angetan?« Sie weinte jetzt und konnte kaum atmen. »Wie kann er solche Lügen über mich verbreiten? Und wie kann irgendjemand so etwas glauben?«
»Briony — Prinzessin, bitte, beruhigt Euch.« Der Schauspieler schien regelrecht erschrocken über das, was er entfesselt hatte.
»Und was sagt Finn? Was sagen die Leute auf der Straße und in den Schänken?«
»Außerhalb des Hofs wird nicht viel darüber geredet«, erklärte Feival. »Die Tollys sind hier nicht sonderlich bekannt, aber ein paar Gedanken werden sich die Leute schon machen. Trotzdem, der König
ist
bekannt und beliebt, und Ihr seid sein Gast. Die meisten Syanesen gehen davon aus, dass er schon wissen wird, was das Beste ist.«
»Aber nicht die hier am Hof, wenn ich's recht verstehe.«
Feival versuchte sie jetzt zu beruhigen. »Die meisten Leute am Hof kennen Euch nicht besser als die betrunkenen Dummköpfe in den Schänken. Das kommt daher, dass Ihr Euch hier verkriecht wie ein Einsiedler.«
»Du willst ...« Sie hielt inne, um erst einmal zu Atem zu kommen, zu warten, bis ihr Herz etwas langsamer schlug. »Du willst also sagen, ich sollte öfter hinausgehen und mich unter die Leute hier in Weithall mischen? Ich sollte mehr Zeit mit Leuten wie Jenkin Krey verbringen und auch über andere herziehen und Lügen verbreiten?«
Feival atmete tief ein und straffte sich, das Inbild des Mannes, dem eine ungerechte Behandlung widerfährt. »Zu Eurem eigenen Besten, ja, Prinzessin. Ihr solltet Euch blicken lassen. Ihr solltet den Leuten durch Eure schiere Anwesenheit zeigen, dass Ihr nichts zu verbergen habt. So werdet Ihr Kreys Lügen entkräften.«
»Vielleicht hast du recht.« Die heiße Wut legte sich jetzt, doch was an ihre Stelle trat, war nicht minder wütend, nur kälter. »Ja, du hast recht. Ich muss etwas tun, um die Verbreitung solch abscheulicher Geschichten zu unterbinden. Und ich werde es tun.«
Der Tempel von Onir Plessos hatte nicht genügend Betten für all die Neuankömmlinge, doch die Pilger waren ein anspruchsloses Häuflein, zufrieden damit, einfach nur Zuflucht vor den kalten Regengüssen dieses Frühjahrs zu finden. Der Gastmeister erklärte ihnen, sie könnten nach dem Nachtmahl ihre Decken im Gemeinschaftsraum ausbreiten.
»Stören wir da nicht die anderen Gäste oder die Brüder?«, fragte der Pilgerführer, ein untersetzter, offenkundig gutmütiger Mann, für den die Betreuung von Suchenden und Büßern nach all den Jahren mehr Geschäft als religiöse Berufung war. »Ihr wart immer großzügig zu mir, Herr, und ich würde mir hier ungern einen schlechten Ruf einhandeln.«
Der Gastmeister lächelte. »Ihr bringt eine ehrbare Sorte Pilger, guter Theron. Ohne solche Reisende hätte es unser Tempel schwer, den wahrhaft Bedürftigen Nahrung und Obdach zu geben.« Er senkte die Stimme. »Als Beispiel für die Sorte, die mir weniger gefällt — seht Ihr den Mann dort drüben? Den Krüppel? Er ist schon mehrere Tagzehnte hier.« Er deutete auf eine verhüllte Gestalt, die in dem kärglichen Garten saß, an ihrer Seite eine kleinere Gestalt, einen Jungen von neun oder zehn Sommern. »Ich gestehe, ich hatte gehofft, wenn es wärmer würde, würde er weiterziehen — er riecht nicht nur streng, er ist auch sonderbar und spricht nicht selbst mit uns, sondern lässt das Kind für sich sprechen ... oder jedenfalls seine Worte weitergeben, die gewöhnlich düster und rätselhaft sind.«
Theron blickte interessiert hinüber. Das Schwinden seines eigenen Glaubens oder zumindest seines Glaubenseifers hinderte ihn nicht daran, vom starken Glauben anderer fasziniert zu sein — ganz im Gegenteil, war doch eben jener starke Glaube jetzt seine Existenzgrundlage. »Vielleicht ist er ja ein
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