Die Daemmerung
Orakel, Euer Krüppel. Blieb nicht auch der heilige Zakkas zu seinen Lebzeiten unerkannt?«
Der Gastmeister war gar nicht belustigt. »Versucht nicht, einen Priester Frömmigkeit zu lehren, Pilgerführer. Dieser Mann spricht nicht von heiligen Dingen, sondern von ... tja, das ist schwer zu erklären, wenn Ihr ihn nicht selbst gehört habt — oder das, was das Kind für ihn sagt.«
»Ich glaube nicht, dass dafür Zeit bleibt«, sagte Theron schroff, weil ihn die Zurechtweisung durch den Priester wurmte. »Wir müssen morgen früh aufbrechen. Es wird im Blankenwald dieses Jahr noch mindestens einmal Schnee geben, und davon möchte ich nicht überrascht werden. Im Norden geht es derzeit schon seltsam genug zu, auch ohne eisigen Sturm. Mir fehlen die warmen Frühlingszeiten, die wir hier in Gronefeld genossen haben, als der König noch auf seinem Thron in Südmark saß.«
»Mir fehlt vieles aus jener Zeit«, sagte der Gastmeister, und auf diesem sichereren Terrain setzte sich das Gespräch eine Weile fort, und die beiden Männer fanden zu ihrer alten Freundschaft zurück.
Das Feuer im Gemeinschaftsraum war heruntergebrannt, und die meisten Pilger schliefen nach der langen, kalten Wanderschaft des Tages. Theron unterhielt sich gerade leise mit seinem Wagenmeister, als der heilige Mann — wie ihn Theron im Stillen schon zu nennen geneigt war — langsam hereinhumpelte, auf ein dreckiges, mürrisches, dunkelhäutiges Kind gestützt. Der Junge half ihm, sich am Feuer niederzulassen, nahm dann einen Becher aus der Hand des Bettlers und ging ihn am Wasserbottich füllen.
Theron bedeutete dem Wagenmeister mit einer Handbewegung, verrichten zu gehen, was er vor dem Schlafen noch zu verrichten hatte, und beobachtete dann den heiligen Mann ein Weilchen. Viel war von ihm nicht zu erkennen: Sein Gesicht verbarg die große Kapuze des fleckigen, zerrissenen Gewands, und seine Hände steckten in dreckigen, alten Verbänden. Die seltsame Gestalt saß reglos da, bis auf ein leichtes Zittern. Als Theron den Bettler so betrachtete, verspürte er keine heilige Scheu, sondern plötzliche Angst. Der Mann selbst wirkte zwar nicht besonders bedrohlich, aber etwas an ihm erinnerte Theron an alte Geschichten — nicht von heiligen Pilgern, sondern von ruhelosen Geistern und von Toten, die es nicht in ihrem Grab hielt.
Theron befingerte die bammelnde, klickende Sammlung von religiösen Symbolen um seinen Hals, Pilgerzeichen, die er teils in jüngeren Jahren auf seinen eigenen Wallfahrten zu verschiedenen heiligen Stätten errungen, teils aber auch von seiner Pilger-Kundschaft geschenkt bekommen oder als Teil der Bezahlung erhalten hatte. Seine Finger verweilten einen Moment auf einer hölzernen Taube, an der er besonders hing und die vom vielen Anfassen schon speckig glänzte. Sie stammte von einer seiner ersten Pilgerfahrten, zu einem berühmten Zorienschrein in Akaris, und in beunruhigenden Situationen half es ihm besonders, an die Weiße Tochter zu denken.
Theron spürte, dass jemand neben ihm stand, und blickte auf. Es war der Gastmeister. Das wunderte Theron, weil der Ältere sonst nach den Abendgebeten nicht mehr in den Gemeinschaftsraum zu kommen pflegte. »Ich fühle mich geehrt, Gastmeister«, sagte er. »Wollt Ihr einen Becher Wein mit mir trinken?«
Der Gastmeister nickte. »Gern. Ich wollte Euch noch etwas fragen, und Ihr sagtet ja, Ihr müsstet morgen schon früh aufbrechen.«
Theron war es ein bisschen peinlich, daran erinnert zu werden, weil er das ja im Zorn gesagt hatte. Er goss Wein aus seinem Krug in einen Becher und reichte diesen seinem Freund. »Natürlich, Gastmeister. Was möchtet Ihr wissen?«
»Einer Eurer Pilger hat mir erzählt, dass König Olins Tochter in Tessis sei — dass man sie lebend gefunden habe. Ist das wahr?«
»Soweit ich weiß, ja — sie erschien kurz vor unserer Abreise, jedenfalls wurde das überall erzählt. Es war
das
Gesprächsthema während unserer letzten Tage in Syan.«
»Und weiß irgendjemand, was ... wie heißt sie gleich? Brunia?« »Briony. Prinzessin Briony.«
»Natürlich — Ihr seht mich beschämt. Wir bekommen hier nicht viel von dem mit, was am Hof vor sich geht, und in meinem Alter wird man allmählich vergesslich. Briony. Weiß jemand, warum sie in Syan ist und was das bedeutet?«
Theron bemerkte, dass der vermummte Bettler am Feuer den Kopf gehoben hatte, als hörte er zu. Er überlegte, ob er leiser sprechen sollte, befand das dann aber für albern: Was er hier
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