Die Daemmerung
Stimmchen. Tu
doch nicht so, als ginge es dir nicht auch darum.
Kein edles Motiv, aber eins, das aus ihrem Herzen kam. Hendon Tolly hatte ihr so gut wie alles genommen. Er und sein Bruder Caradon hatten den Tod verdient, am besten einen Tod, dem Leiden und Demütigung vorausgingen. Hendon hatte nicht nur den Thron ihrer Familie an sich gerissen, er hatte Briony das Gefühl gegeben, hilflos und schwach zu sein, und schon dafür wollte sie ihn sterben sehen. Manchmal war ihr, als würde sie nie wieder stark sein, ehe Hendon für dieses Verbrechen bestraft war.
»Prinzessin?«
Sie schlug sich beschämt die Hand vor den Mund. Wie lange hatte sie ihren Gedanken nachgehangen? Sie wagte gar nicht erst, Feival anzusehen, der mit Sicherheit außer sich war. »Tut mir leid, ich ...« Warum die Gelegenheit nicht nutzen? »Ich musste nur plötzlich ... an etwas Schmerzliches denken ...«
»Das ist meine Schuld.« Er sah aus, als glaubte er es wirklich. »Ich hätte Euch wegen Eures Ausflugs auf den Blumenmarkt nicht necken sollen — das war gedankenlos und grausam. Ich hatte ganz vergessen, dass ja an jenem Tag Eure kleine Dienerin starb. Ich bitte vielmals um Verzeihung, Prinzessin.«
War es das, worüber sie zuletzt geredet hatten — der Markt? Sie hatte völlig den Faden verloren. Allein schon der Gedanke an Hendon Tolly und sein verschlagenes Grinsen, wenn er damit prahlte, wie er ihren Thron an sich gebracht hatte ... »Nein, nein«, sagte sie und fing sich wieder. »Nicht Eure Schuld, Hoheit. Bitte, Ihr wart noch nicht fertig mit der Geschichte von der Belagerung.«
»Seid Ihr sicher, dass Ihr meine trockene Darstellung ein weiteres Mal hören wollt?«
»Für mich ist sie nicht trocken, Prinz Eneas, sie ist wie Wasser für eine ausgedörrte Kehle. Erzählt weiter.«
Er fuhr fort, während Briony, Ivgenia und die anderen Frauen gespannt zuhörten und selbst Feival immer wieder vergaß, dass er ja so tun sollte, als ob er arbeitete. Ob es nun die faszinierende Geschichte war, wie der Prinz die hierosolinische Garnison entsetzt hatte und mit dem Grafen Risto und dessen Mannen über die Grenze nach Syan entkommen war, oder einfach nur die Tatsache, dass Eneas ein faszinierender junger Mann mit einer noch faszinierenderen Position in der Welt war — das Publikum war jedenfalls hingerissen.
Am Ende seiner Geschichte angekommen, stand der Prinz auf, verbeugte sich und bat Briony um die Erlaubnis zu gehen — ein Bestandteil syanesischer Hofetikette, der sie amüsierte. Als wäre die schiere Präsenz einer Edelfrau wie der Sog eines Wasserstrudels für einen Schwimmer, ein tödlicher Klammergriff, aus dem nur der Malstrom selbst den Unglücklichen entlassen konnte.
Und wenn ich nein sagen würde?,
fragte sie sich, während er ihr die Hand küsste und sich vor Ivgenia und den anderen Frauen verbeugte.
Wenn ich ihm nun gebieten würde zu bleiben? Müsste er es dann tun?
Wie absurd Etikette doch war! Etwas, das zunächst zweifellos dazu gedient hatte, Männer wenigstens für kurze Zeit vom Töten und Vergewaltigen abzuhalten, hatte ein solches Gewicht erlangt, dass es manchmal hochgradig lächerliche Auswüchse zeitigte.
Ivgenia brach das Schweigen, sobald Eneas draußen war. »Ihm scheint wirklich viel an Euch zu liegen, Prinzessin Briony. Das war schon das dritte Mal in dieser Woche, dass er zu Euch kam.«
»Ich bin eine unterhaltsame Absonderlichkeit«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Eine Prinzessin, die als fahrende Schauspielerin gereist ist. Ich bin wie etwas aus einem Kindermärchen.« Sie lachte. »Ich sollte wohl froh sein, dass ich keine Figur aus einem schrecklicheren Märchen bin, ein Kind, das im Wald ausgesetzt oder von einer bösen Stiefmutter misshandelt wurde.« Ihr Lachen brach jäh ab. Beides war gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.
»Ihr wollt es nicht wahrhaben«, sagte Ivgenia. »Habe ich recht?« Die Dienerinnen und anderen Gesellschafterinnen nickten. »Er ist Euch wirklich zugetan, Hoheit. Vielleicht könnte ja mehr daraus werden, wenn Ihr nicht so stur wärt.«
»Stur?« Sie hatte geglaubt, alles — außer sich ihm in die Arme zu werfen — zu tun, um sich Eneas' Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu erhalten. »Inwiefern bin ich stur?«
»Das wisst Ihr nur zu gut«, sagte ihre Freundin. »Ihr mischt Euch nie unter die Leute hier am Hof außer bei den Mahlzeiten. Sie denken, Ihr seid zu stolz. Manche sagen, es kommt nur daher, dass Euch so Schlimmes widerfahren ist,
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