Die Daemmerung
ins Licht ihrer Korallenlampe. »Schau mal, Chert, das ist ein Stück von einem Seetaler. Was macht der denn hier unten statt an einem Strand? Meinst du, jemand hat ihn fallen lassen?«
»Muss wohl so sein.« Chert inspizierte sorgfältig den Fels über ihren Köpfen, aber der sah beruhigend fest und trocken aus. »Hier tropft nichts. Außerdem würde das Meer nicht nur tropfen, wenn es einen Weg hier herein fände. Das viele Wasser, das ganze Gewicht — es würde im Nu alles fluten.« Er musste an die schrecklichen Geschichten denken, die ihm sein Vater über das Unglück an der Steinhauerbank erzählt hatte, einer Felsregion, benannt nach der Zunft, die ihr Wohngebiet dorthin ausgedehnt hatte.
Oberstes Gesetz von Funderlingsstadt war es schon immer gewesen, niemals eine wie auch immer geartete größere Grabung unterhalb der Wasserlinie durchzuführen, da ein einziger Fehler genügte, um das Meer hereinbrechen zu lassen, was die Zerstörung des Mysterienbereichs, des Tempels der Metamorphose-Brüder und überhaupt all dessen, was sich in den unteren Höhlen befand, bedeuten würde. Doch an jenem Morgen vor sechzig oder siebzig Jahren hatte der Steinhauertrupp die Übersicht darüber verloren, in welcher Tiefe er sich bereits befand. Außerdem waren die Männer, wie später festgestellt wurde, zu weit zum Rand des meerumspülten Midlanfels vorgedrungen.
An jenem Tag folgte dem Rumpeln sich lösender Felsen ein fürchterlicher Speerstoß von eiskaltem Meerwasser, der die Funderlingssteinhauer fällte. Binnen weniger Augenblicke begann der gewaltige Wasserstrom die Felsspalte zu weiten; der dünne Strahl wurde rasch zu einem fassdicken Schwall. Die Steinhauer mühten sich vergeblich, das Loch zu stopfen, kämpften gegen die überwältigende Macht des Meergottes selbst an, doch die Hohlräume fingen schon an vollzulaufen. Einer der Arbeiter widersetzte sich seinem Vorarbeiter und floh auf eine höhere Sohle, um den Leuten dort zu sagen, was unten geschah. Alle verfügbaren Mitglieder der Zünfte eilten herbei, und die Zunftvorsteher trafen die Entscheidung, den ganzen Stollen zu versiegeln. Ein Dutzend Funderlinge wurden aus der vollgelaufenen Sohle herausgeholt, doch fast doppelt so viele waren durch das steigende Wasser in anderen Seitengängen eingeschlossen, und es blieb keine Zeit mehr, nach ihnen zu suchen. Man hatte, wie Cherts Vater mit einer Art grimmer Befriedigung erzählt hatte, vor der Wahl gestanden: Dreiundzwanzig Männer, die von einem idiotischen Vorarbeiter zum Tode verurteilt worden waren, oder viele Hundert andere, die sich in der restlichen Funderlingsstadt unterhalb des Meeresspiegels befanden.
Es war noch Glück im Unglück gewesen, dass die Steinhauerzunft kurz zuvor den wohlüberlegten Gebrauch von Schwarzpulver bei besonders schwierigen Grabungen gestattet hatte: Wenn die Leute den Fels von Hand hätten bewegen müssen, hatte Cherts Vater erklärt, hätte überhaupt nichts von den tiefer liegenden Bereichen gerettet werden können. Die eingeschlossenen Männer mussten einen Donnerschlag wie vom Hammer des Herrn der endlosen Himmel gehört haben, als das Schwarzpulver die Kammer vor dem Unglücksstollen zum Einsturz brachte. Danach hatten sie wohl nichts mehr gehört außer ihren eigenen verängstigten Stimmen und dem ansteigenden Wasser, das sie bald verschlingen sollte.
Der Gedanke an ihre letzten Augenblicke hatte Chert während seiner ganzen Jugendzeit Alpträume verursacht, und bis heute sprachen Funderlingskinder nur flüsternd über die schaurigen, verschütteten Tiefen der Steinhauerbank.
»Nein, nein — hier ist kein Loch«, erklärte Chert seiner Familie und schüttelte den Kopf über seine Kindheitserinnerungen, die sein Herz noch immer flattern machten. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Und das ist auch gut so, denn wir befinden uns ein gutes Stück unterm Wasserspiegel, und ich ziehe es vor, nicht nass zu werden.«
»Trotzdem, das, was der Junge da gefunden hat, ist eindeutig ein Seetaler.« Opalia gab ihn Flint zurück und zauste das Haar des Jungen. Mit Muscheln kannte Opalia sich aus. Sie war früher in der kalten Jahreszeit immer gern mit den anderen Funderlingsfrauen an die Oberfläche gegangen, um in den Gezeitentümpeln am Rande der Brennsbucht Muscheln zu sammeln, sie dann nach Hause zu bringen und unter Verwendung eines heißen Steins zu kochen. Chert liebte sie — sie schmeckten noch süßer als die vielbeinigen Korabi, die Spaltenkriecher, die über die
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