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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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geschrubbten Händen, gewaschenem Gesicht und wässrigem Mund am Tisch saßen.
    Ich sollte schauen, ob ich irgendwo in diesem Trümmerfeld von Stadt ein paar Marashi-Pfefferschoten auftreiben kann,
dachte er, als er sich plötzlich Okros gegenübersah, dem Hofarzt, der gerade aus dem Hofeingang einer Hühnerschlachterei getreten war.
    »Oh? Guten Tag«, sagte Kettelsmit erschrocken, und sein Herz hämmerte.
Weiß er, dass ich ihn kenne? Haben wir je miteinander gesprochen, oder habe ich ihm nur nachspioniert?
    Okros schien allerdings noch erschrockener als der Dichter. Er hatte irgendetwas unter seinem Mantel — etwas Lebendiges, wie sich bald zeigte. Noch während der kleinere Mann an Kettelsmit vorbeizugelangen suchte, guckten dort, wo er das Kleidungsstück am Hals nach besten Kräften zusammenhielt, plötzlich ein verzweifeltes kleines Auge und ein gelber Schnabel hervor. Es war ein Hahn, und zwar, nach seinem partiellen Auftauchen zu urteilen, ein sehr hübscher, mit rotem Kamm und glänzend schwarzen Federn.
    Okros sah Kettelsmit kaum an, so als wäre es womöglich schmerzhaft, jemandem direkt in die Augen zu blicken. »Ja, ja«, sagte er, »guten Tag.« Im nächsten Moment eilte er bereits wieder in Richtung Hauptburg, als könnte der Besitz eines Hahns ein Verbrechen gegen die Krone darstellen.
    Vielleicht hat er ja Angst, beraubt zu werden,
dachte Kettelsmit.
Es gibt hier schon Leute, die für ein kärglicheres Mahl morden würden.
Aber die ganze Begegnung war doch irgendwie seltsam. Im Palast war doch sicher mehr Federvieh zu finden als hier in den Ruinen der Vorburg — und warum die Heimlichtuerei?
    Als Kettelsmit wieder zur Hauptburg hinaufging, driftete plötzlich eine Erinnerung durch seinen Kopf, aber er bekam sie nicht ganz zu fassen — irgendetwas aus einem Buch, das er gelesen hatte, einem der Bücher seines Vaters.
    Die Liebe zur Literatur mochte ja das Einzige sein, was ihm sein Vater mitgegeben hatte, dachte Kettelsmit manchmal, doch in dieser Hinsicht verdankte er ihm wirklich viel: einen schier endlosen Vorrat an Büchern im Haus seiner Kindheit und Jugend, die meisten aus den Beständen der Familien entliehen (oder gestohlen, dachte er jetzt plötzlich), bei denen Kearn Kettelsmit Hauslehrer gewesen war — Clemon, Phelsas, die ganzen Klassiker, aber auch leichtere Kost wie die Gedichte des Vanderin Uegenios und die Theaterstücke der hierosolinischen und syanesischen Meister. Vanderin hatte im Kopf des jungen Matty Visionen von einem Leben in höfischer Eleganz heraufbeschworen, von einer Karriere, die einem die Bewunderung adliger Frauen und das Gold adliger Männer eintrug. Wie bizarr, dass er jetzt endlich dieses Leben lebte und es doch alles so ein verfluchtes Elend war ...
    Plötzlich fiel ihm ein, was es war, was sich da eben in seinem Hinterkopf geregt hatte — ein paar Zeilen von Meno Strivolis, dem großen syanesischen Dichter von vor zweihundert Jahren:
»So nimmt sie denn den schwarzen Hahn

Legt auf den Stein ihn und mit scharfer Klinge

Vergießt den salz'gen Wein, der Kernios' Trank ...«
    Das war alles — einfach nur ein Poem von Meno über Vais, die berüchtigte Königin-Hexe von Krace, in dem es ein paar Verse über einen schwarzen Hahn gab, einen wie den, den der Hofarzt unterm Mantel versteckt gehabt hatte. Eine Assoziation, weiter nichts — aber es
war
merkwürdig, dass Okros so einen weiten Weg machte, nur um einen Hahn zu kaufen. Da bot der Hühnerhof des Palasts doch besseres, fetteres Geflügel ...
    Aber vielleicht keinen Hahn von genau dieser Farbe,
dachte Kettelsmit plötzlich. Ihm war noch mehr von dem Gedicht wieder eingefallen:
»Denn Blut ist's immer, das die Hohen ruft

Aus ihren Schatten und von ihren kargen Gipfeln,

Aus ihren Meeresfesten und aus ihrer Wälder Grund

Und Blut ist's ferner, das, Gehör zu leihn

Dem, der sie anruft, diese Hohen bindet,

Ob ihren Schutz nun oder andre Gaben er begehrt ...«
    Die Angst, die ihn gepackt hatte, als er förmlich mit Okros zusammengeprallt war, kehrte jetzt verdreifacht wieder, sodass Matty Kettelsmit seiner wackligen Beine wegen mitten in der engen Gasse stehenbleiben musste. Leute schoben sich schimpfend an ihm vorbei, doch er hörte sie kaum.
»Und da verströmt des jungen Hahnes Blut,

Sie ihre Bitte an den Erdherrn richtet,

Um Todeskräfte wider ihre Feinde ihn ersucht ...«
    Konnte das der Grund sein? Hatte Okros den ganzen Weg aus der Sicherheit des Palasts in die Vorburg auf sich genommen, weil er

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