Die Daemmerung
war. Die Kreaturen hatten die Mauern der Burg schlichtweg überrannt, ein Schwarm von Horrorwesen wie die Dämonen auf einem Tempelfresko, und obwohl Avin Brone, Durstin Krey und selbst Hendon Tolly ihr Bestes gegeben hatten, war in der Vorburg alles niedergemacht oder in die Flucht geschlagen worden. Ein Großteil der Häuser um den Marktplatz und der große Trigonatstempel hatten gebrannt — Teile des Viertels unmittelbar südwestlich der Tormauer schwelten noch immer. Die Straßen der Hauptburg waren jetzt verstopft von menschlichem Elend, die Obdachlosen drängten sich entlang der Mauern in Zelten aus Tuchfetzen, und überall lagen unversorgte Verwundete, sodass es aussah, als hätte eine mächtige Flutwelle das Rabentor eingedrückt, sich am Thronsaal gebrochen und Treibgut in alle Richtungen geschleudert. Kettelsmit hatte an diesem Morgen schon Dinge gesehen, die ihn noch jahrelang im Schlaf verfolgen würden — Kinder mit verkohlter Haut, nicht mehr zu retten, aber immer noch jämmerlich schreiend, ganze Familien, die fiebernd oder schwach vor Hunger vor verbarrikadierten Häusern lagen, nur wenige Schritte von unerreichbarer Hilfe und Wärme entfernt.
Aber gestern dann, nach all der Zerstörung und all dem Grauen, hatten die Zwielichtler plötzlich wie auf ein lautloses Signal die Belagerung der Hauptburg abgebrochen und den geordneten Rückzug angetreten. Sie hatten nichts mitgenommen, keine Gefangenen, kein Gold — den vom Feuer verwüsteten, aber ansonsten unberührten Trigonatsempel hatten jetzt Tollys Männer umstellt, um Plünderungen zu verhindern —, sondern waren einfach wieder im Nebel verschwunden, als wäre der ganze Angriff nichts gewesen als ein blutiger Albtraum.
Doch warum auch immer, Matty Kettelsmit war wie seinen Mitbürgern eine Atempause gewährt worden — er konnte es sich nicht leisten, sie auf Grübeleien über die Zwielichtler und ihre unerfindlichen Beweggründe zu verwenden. Er hatte gewissermaßen für eine Familie zu sorgen: Elan und seine Mutter waren bei Puzzles Nichte in Tempelgart untergekommen, einem relativ ruhigen südwestlichen Teil der Hauptburg, aber die Vorratskammern waren leer, und in einem Frauenhaushalt war die Aufgabe der Lebensmittelbeschaffung ihm zugefallen. Er hatte das Einkaufen nicht übernehmen wollen, doch selbst die engen Sträßchen von Tempelgart waren so voll mit Flüchtlingen, dass er keine der Frauen da hinausschicken wollte. Außerdem hatte er Angst, seine Mutter mit ihrem ewigen selbstgerechten Geplapper könnte in der Öffentlichkeit irgendwie verraten, wer das Mädchen, um das sie sich kümmerte, wirklich war.
Also waren ihm, wie es derzeit sein Los zu sein schien, nur zwei gleichermaßen abschreckende Möglichkeiten geblieben: seine Mutter nach etwas Essbarem auszuschicken oder selbst zu gehen. Er hatte sich für die entschieden, die ihm weniger gefährlich vorkam.
Es war bizarr, dachte Kettelsmit, während er sich durch die entwurzelten Menschenmassen arbeitete, über die Hilflosen hinwegstieg und sein Herz gegen das Flehen von verwundeten Männern oder Müttern hungernder Kinder zu verhärten suchte. Die Soldaten, die gestern noch auf den Mauern gegen Fabelwesen gekämpft hatten, mussten jetzt Raufereien zwischen hungrigen Südmärkern unterbinden. Direkt vor ihm rangen gerade zwei Männer im Schlamm um einen mickrigen Kürbis, den irgendjemand auf seiner Fensterbank gezogen hatte. Kurz erwog er, daraus ein Gedicht zu machen — wie anders als die üblichen Sujets? —, aber Matty Kettelsmit diente so vielen Herren, dass er derzeit nicht mal Zeit zum Denken hatte, geschweige denn zum Schreiben. Dennoch, es war eine interessante Idee — ein Gedicht über Menschen, die um einen Kürbis kämpften. Das sagte doch mehr über die Zeiten, in denen er lebte, als ein Liebesgedicht im Auftrag eines Höflings über den weißen Hals einer Frau.
Er war auf dem Rückweg vom Marktplatz, seine Beute in seinen Mantel gewickelt: einen leicht schimmligen Brotkanten, eine kleine Zwiebel und — sein aufregendster Fund — ein Stück gedörrten Aal, auf das er den größten Teil seines Einkaufsgelds verausgabt hatte. Der Aaltopf seiner Mutter gehörte zu seinen wenigen schönen Kindheitserinnerungen. Aal hatte Anamesiya Kettelsmit nur an den Tagen gekauft, an denen die Boote zu viele Aale mitgebracht hatten und der Preis gefallen war, darum war dieses Gericht ein Leckerbissen gewesen, der dafür sorgte, dass Matty und sein Vater schon vor der Zeit mit
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