Die Daemmerung
Kleid.«
»Mein Kleid, Prinzessin?«
»Psst! Nicht so laut — die anderen sind nur im Rückzugszimmer. Wir müssen schnell machen. Und dann nimm dieses Gewand hier und zieh es an.«
Eins musste man der jungen Agnes lassen: Sie vergeudete keine Zeit mit Fragen. Mit Brionys Hilfe zog sie ihr Kleid aus, und als sie fröstelnd im Unterkleid dastand, legte Briony ihr das Nachtgewand um.
»Jetzt hilf mir«, befahl Briony.
Als sie in das Kleid geschnürt war, zog Briony Agnes an ihre Brust. »Es versteht sich von selbst, dass du von meinen Kleidern haben kannst, was du möchtest«, sagte sie. »Im großen Schrank sind etliche. Aber noch etwas sollst du haben. Hier. Der Narr, von dem ich es habe, hat nicht dafür bekommen, was er wollte, aber geschenkt ist geschenkt, also gehört es mir, und ich kann es dir geben.« Sie nahm den teuren Armreif hervor, den ihr der Grafensohn Nikomakos als Liebesgabe geschickt hatte, und schloss ihn um das Handgelenk des Mädchens.
Agnes' Augen wurden groß, dann erschien im Augenwinkel eine Träne. »Ihr seid zu gütig zu mir, Prinzessin!«
»Nein. Du hast noch eine Aufgabe vor dir, und die ist nicht leicht. Wenn die Soldaten des Königs kommen — was noch heute Nacht sein kann, wenn sie irgendetwas stutzig macht, sonst wohl erst morgen —, musst du sie davon überzeugen, dass du nicht gemerkt hast, was ich vorhatte.« Sie runzelte die Stirn. »Nein, das geht nicht — dafür bist du zu gescheit. Du musst ihnen erzählen, dass ich dich mit Drohungen zum Schweigen gezwungen habe.«
Jetzt war es an Agnes, die Stirn zu runzeln und den Kopf zu schütteln. »Ich werde Euch nicht verleumden, Prinzessin Briony. Überlasst das mir — mir fällt schon etwas ein.«
»Mögen die Götter dich segnen, Agnes? Und jetzt, wenn wir an der Tür sind, tritt halb hinaus, aber nicht weiter — und dreh das Gesicht von den Wachen weg.«
Beim Öffnen der Tür sagte Briony laut: »Spute dich, Mädchen? Geh zu ihr und komm schleunigst wieder zurück. Ich will schlafen gehen.«
Da war nur der eine Soldat, und wie Briony gehofft hatte, blickte er gerade lange genug her, um die beiden vertrauten Gestalten zu sehen — die Frau im Nachtgewand, die ihre Dienerin ein letztes Mal ausschickte —, ehe er sich wieder an die Wand lehnte.
»Die Prinzessin scheucht dich ganz schön durch die Gegend, was?«, rief er, als Briony an ihm vorbeitrottete, das Mantelbündel an sich gepresst.
»O ja«, sagte sie — aber so leise, dass nur sie es hören konnte. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wer ich bin.« Dann war sie um die Ecke.
Sie nahm den Weg, den sie mit Eneas gegangen war, und machte in den Stallungen gerade so lange Station, wie sie brauchte, um die Jungenkleider anzuziehen, die sie bei den Schauspielern getragen hatte. Sie dankte Zoria und den übrigen Göttern dafür, dass der Mantel, den sie ausgesucht hatte, warm war: In Syan hätte eigentlich Frühling sein müssen, aber es war eine kalte Nacht. Sie war auch froh, dass es eine Marktnacht war und die Palasttore länger offen blieben, weil immer noch Leute kamen und gingen. Sie vergrub das Kleid, das ihr Agnes gegeben hatte, im Stroh, verließ die Stallungen und wanderte zum Tor hinaus in die Stadt.
Briony ging geradewegs zu dem Gasthaus, wo die Schauspieler untergebracht waren. Das
Walross
lag in einer engen Gasse in einem dunklen, aber lebhaften Viertel von Tessis, nahe den Hafenanlagen am Fluss. Das Schild zeigte ein seltsames Meeresgeschöpf mit abwärts gerichteten Stoßzähnen. Betrunkene wankten singend oder streitend herum, manche mit nicht minder streitsüchtigen Frauen im Arm. Briony war froh, dass sie als Mann verkleidet war, und betete, dass niemand sie anspräche. Das hier schien eine Gegend, wo sie immer noch genug zu befürchten hatte, selbst wenn man sie für einen Jungen und nicht für ein Mädchen hielt.
Nevin Kennit schlief, den Kopf auf dem Tisch, im Schankraum des Gasthauses. Finn Teodorus neben ihm war zwar in etwas besserer Verfassung, erkannte sie aber dennoch zunächst nicht, auch als sie seinen Namen flüsterte.
Er lehnte sich zurück, als wollte er sie von Kopf bis Fuß in Augenschein nehmen, beugte sich dann wieder vor. »Jung-Tim ... ich meine Prin ...!«
Briony schlug ihm so fest die Hand vor den Mund, dass ein nicht ganz so betrunkener Mann einen Schmerzensschrei ausgestoßen hätte. »Nicht? Ist die ganze Truppe hier?«
»Iff enke ffon ... ich meine, ich denke schon. Dowan ist schon vor Stunden verschwunden. Makswell
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