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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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nichts schlimmer sein konnte, als sich zeitlebens fragen zu müssen, was dort unten passiert war.
    Er setzte den Fuß auf die oberste Stufe und horchte. Das Licht, das die Treppe heraufdrang, war nicht mehr als ein schwaches Glimmen. Leise und vorsichtig nahm Kettelsmit Stufe um Stufe, bis er unten war. Er sah die Nischen zu beiden Seiten wie dunkle Waben, und er sah die Fackel auf dem Steinboden liegen. Mehr brauchte er nicht zu sehen, befand er plötzlich — zum Kernios mit irgendwelchen lebenslangen Grübeleien? Die brennende Fackel lag nur ein paar Schritte entfernt. Er konnte hinkrabbeln und den Kopf gesenkt lassen, dann brauchte er in keins der leeren Steingesichter auf den Sarkophagen zu blicken ...
    Er sah Okros in dem Moment, als sich seine Finger um den Fackelstiel schlossen. Der Arzt lag gleich daneben, auf dem Rücken, die Beine gespreizt und den linken Arm weggestreckt, in der Hand noch ein Stück Pergament. Seine Augen waren weit aufgerissen, der Mund klaffte von einem stummen Schrei — das Gesicht eines Mannes, der einen so entsetzlichen Schock erlitten hatte, dass ihm das Herz in der Brust geborsten war. Doch das Grässlichste von allem war sein rechter Arm — oder vielmehr sein nicht vorhandener rechter Arm: Da war nur noch ein kurzes, glänzendes Stück Knochen, das aus Okros' Schulter ragte wie eine zerbrochene Flöte. Die Haut war bis zum Hals abgefetzt, die roten Muskeln lagen frei. An der Schulter hingen nur noch kleine Haut- und Fleischfetzen, wie die zerfransten Hanfstränge eines gerissenen Seils.
    Und was am schlimmsten war: Aus diesem ganzen Trümmerfeld von Fleisch und Knochen quoll kein Blut — nicht ein einziger roter Tropfen, so als hätte das, was ihm den Arm abgerissen hatte, auch seine Adern leergesaugt.
    Kettelsmit kauerte immer noch auf Händen und Knien und würgte seinen Mageninhalt hervor, als er plötzlich etwas Kaltes, Spitzes im Nacken spürte.
    »Da schau her«, sagte eine Stimme, die in der steinernen Gruft hallte. »Ich komme zurück wegen eines Stücks Pergament und finde einen Spion. Steh auf und lass dich ansehen. Aber wisch dir zuerst die Kotze vom Kinn, sei ein braver Junge.«
    Kettelsmit stand vorsichtig auf und drehte sich so langsam wie möglich um. Das kalte, spitze Ding bewegte sich um seinen Kopf herum, bog unterwegs sein Ohr um, ritzte dabei die Haut, sodass er nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrückte, fuhr dann unsanft über seine Wange und verharrte schließlich direkt unter seinem Auge.
    Durch eine Laune des Lichts war die Klinge nicht zu erkennen, es schien, als hielte ihn Hendon Tolly mit einem Schwert aus Schatten in Schach. Der Protektor wirkte fiebrig: Seine Augen glänzten, und seine Haut glitzerte von Schweiß.
    »Ah, mein kleiner Poet!« Tolly grinste, aber irgendetwas daran stimmte nicht. »Und wem dienst du nun wirklich? Prinzessin Briony, die aus dem fernen Tessis deine Marionettenfäden zieht? Oder jemand viel Näherem — Avin Brone vielleicht?« Einen Moment drohte die Schwertspitze höher zu rutschen. »Kommt auch nicht darauf an. Jetzt bist du mein, Jung-Kettelsmit. Denn wie du siehst, habe ich heute Nacht einen meiner wichtigsten Diener verloren, und es gibt noch viel zu tun — oh, sehr, sehr viel. Ich brauche jemanden, der lesen kann.« Er deutete auf Okros Dioketians einarmige Überreste. »Natürlich kann ich dir nicht versprechen, dass diese Arbeit ungefährlich ist — aber sie ist auf jeden Fall nicht halb so gefährlich, wie sich mir zu widersetzen. Hast du mich verstanden, Poet?«
    Mit der Schwertspitze direkt unter seinem Auge musste Kettelsmit äußerst vorsichtig nicken. Er fühlte sich gelähmt, hilflos, wie eine gefangene Fliege, die die Spinne übers Netz heranturnen sieht.
    »Dann nimm Okros dieses Pergament ab«, sagte Tolly. »Nun nimm es schon. Und jetzt geh vor mir her. Du Glückspilz von einem Dichter! Du wirst heute Nacht vor meinem Bett schlafen — und von jetzt an jede Nacht. Oh, was du alles sehen und lernen wirst!« Er lachte, und es klang genauso unheilvoll, wie sein Grinsen eben ausgesehen hatte. »Kurze Zeit in meinen Diensten, und du wirst nie mehr deine hohlen, ekelhaft süßlichen Gedankengespinste mit der Wahrheit verwechseln.

31

Ein Stück Schnur
    Kupilas der Handfertige, der in unseren Geschichten über das Trigon und die Theomachie nur am Rande erwähnt wird, scheint hingegen in der Überlieferung der Qar eine herausragende Rolle
zu
spielen. Laut einigen ihrer Mythen besiegte er sogar am Ende die

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