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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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Der Handfertige wird nicht mehr sein. Wer soll dich dann schützen?«
    »Dasselbe könnte ich dich fragen.« Aber sie hatte schon genug Zeit vergeudet. Sie ging an der Kreatur vorbei, und die Eremiten folgten ihr wie eine Wolke aus winzigen Flämmchen.
    So schnell sie konnte, passierte Yasammez Orte, wo der Wind mit den Stimmen verirrter Kinder heulte, und andere, wo der Himmel selbst nicht richtig zu passen schien, bis sie schließlich an den Hügel kam, wo die Tür war, ein einsames Rechteck, das die grasige Kuppe krönte wie ein senkrecht stehendes Buch. Sie erklomm den Hügel und kauerte sich vor die Türöffnung, den Schwanz ihrer Traumgestalt um sich geschlungen, die Ohren flach angelegt. Die Eremiten schwebten unsicher auf der Stelle.
    »Auf dieser Seite der Tür ist er nicht mehr zu hören, Herrin«, erklärten sie ihr.
    »Ich weiß. Aber er ist noch nicht dahingegangen. Das wüsste ich.« Sie sandte einen Ruf aus, aber er antwortete nicht. In der Stille, die sich anschloss, konnte sie die Winde fühlen, die durch die eisigen, luftlosen Gefilde hinter der Tür wehten. »Helft mir«, sagte sie zu denen, die ihr gefolgt waren. »Leiht mir eure Stimmen.«
    Sie taten es lange Zeit, sangen in die Endlosigkeit. Schließlich, als selbst Yasammez' nicht-menschliche Geduld beinah aufgebraucht war, fühlte sie, wie sich am Rand ihrer Wahrnehmung etwas regte, ein schwaches Flüstern wie der letzte Atemhauch der Blumenjungfrau im Fluss.
    »... Jaaa ...«
    »Bist du das, Handfertiger? Bist du ... noch da?«
    »Bin ich ... aber ich ... werde
zu
nichts ...«
    Sie wollte etwas Tröstendes sagen oder es vielleicht gänzlich leugnen, aber es war nicht die Art ihrer Blutslinie, das, was war, zu etwas zu verbiegen, das nicht war. »Ja. Du stirbst.«
    »Es ist ... lang erwartet. Aber die, die fast ... so lange gewartet haben wie ich ... machen sich bereit. Sie werden ... kommen ...«
    »Wir, deine Kinder, werden das nicht zulassen.«
    »Ihr habt ... ihr habt nicht die Macht.«
Er wurde schwächer, so leise wie ein Regentropfen auf einem fernen Berggipfel.
»Sie haben
zu
lange gewartet, die Schlafenden ... und die Nicht-Schlafenden ...«
    »Sag mir, wen wir fürchten müssen. Sag es mir, dann kann ich sie niederkämpfen?«
    »So geht es nicht, Tochter ... du kannst Stärke nicht ... auf diese Art bezwingen ...«
    »Wer ist es? Sag es mir!«
    »Ich kann nicht. Ich bin ... gebunden. Alles, was ich bin ... ist das Einzige, was die Tür geschlossen hält ...«
    Und jetzt hörte sie die unendliche Müdigkeit, die Sehnsucht nach dem Ende des Kampfes, das der Tod bringen würde.
»Deshalb muss ich ... das Geheimnis bewahren ...«
    Seine Stimme verstummte — eine ganze Weile glaubte sie, es sei endgültig. Dann aber wehte doch noch etwas heran wie eine Feder im Nachtwind.
»Das Orakel spricht von Beeren ... weißen und roten. Also wird es so sein. Also muss es so sein.«
    Gewiss war jetzt nichts mehr von ihm da. »Vater?« Sie versuchte, stark zu sein. »Vater?«
    »Denk an das Orakel und seine Worte«,
sagte er, und seine leise Stimme entglitt jetzt ins Nichts.
»Denk daran, jedes Licht ... zwischen Sonnenaufgang ... und Sonnenuntergang ...«
    »Ist es wert, mindestens einmal dafür zu sterben«, vollendete sie, aber er war nicht mehr da.
    Als sie wieder sie selbst war, die Yasammez, die atmete und fühlte, die Yasammez, die jeden schmerzlichen Augenblick der tausendjährigen Niederlage ihres Volkes erlebt hatte, erhob sie sich und verließ die Höhle. Keiner der Eremiten folgte ihr, nicht einmal Aesi'uah, ihre geschätzte Ratgeberin. Tod war in ihren Augen und ihrem Herzen. Kein lebendes Wesen hätte jetzt an ihrer Seite gehen können, und das wussten sie alle.

    So hatte sich Matty Kettelsmit den Abend nicht vorgestellt.
    Er brach das letzte Stückchen Brot, das er dabei hatte, und tunkte den Wein in seinem Becher auf. Eingeweichtes Brot, wenn er Aaltopf hätte haben können! Aber es war immerhin ein Glück, dass er den Wein gefunden hatte, und er empfand kein bisschen Mitleid mit demjenigen, der ihn da abgestellt hatte. Vom Abendläuten bis jetzt, da es bald Mitternacht sein musste, versteckte er sich schon auf der Empore der Kapelle und hielt ein Auge auf die Tür zu Hendon Tollys Gemächern, wohin Okros Dioketian laut seinem Gehilfen gegangen war. Was konnte der Mann nur so lange bei Tolly machen? Und wenn er endlich herauskäme, würde er sich dann in seine eigenen Gemächer begeben, sodass Kettelsmit schlafen gehen konnte? Avin

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