Die Daemmerung
sich, wie es hier wohl im Hexamene aussah, wenn die Sonne warm war und der Markt voll mit frischem Obst und Gemüse und mit Blumen.
Bei allem Staunen über diese beeindruckenden Örtlichkeiten hatte Briony doch auch Heimweh nach ihrer Stadt — dem bescheidenen Marktplatz (auch wenn er ihr bisher kaum je bescheiden erschienen war) und selbst der Marktstraße, die ihr jetzt wie ein Gässchen erschien, verglichen mit den meisten großen Straßen von Tessis und erst recht mit der Laternenstraße, die so breit war wie ein Turnierplatz und in der Mitte erhöhte steinerne Gehsteige hatte, damit die Fußgänger sich vor den vielen schweren Ochsenwagen in Sicherheit bringen konnten. Stellenweise hatten Leute sogar kleine Häuser auf diese erhöhten Gehsteige gequetscht? Briony traute ihren Augen kaum — eine Straße, die so breit war, dass in der Mitte Häuser standen!
Aber trotzdem: Es war nicht ihre Heimatstadt. Und vor allem: Sie wurde hier nicht gebraucht, ja war noch nicht einmal sonderlich erwünscht.
Auf der anderen Seite der Brücke hieß Ivgenia die Wachsoldaten stehenbleiben. Sie versprach ihnen, dass sie und Briony in Sichtweite bleiben würden, und ließ die Dienerinnen zu ihrer Unterhaltung zurück — was den Mädchen ganz recht war, da sie diese Kallikan, was immer das war, als etwas leicht Unappetitliches zu betrachten schienen. Dann führte Ivgenia Briony in ein Sträßchen mit Häusern und Läden, die so klein waren, dass Briony zuerst dachte, sie seien für ein Königskind erbaut worden — eine ganze Puppenstraße statt nur eines Puppenhauses. Die Türstürze waren noch nicht einmal auf ihrer Schulterhöhe.
Als Briony die Miniaturstraße entlangblickte und sich gerade wünschte, auf einen Trittschemel steigen zu können, um in die oberen Fenster zu schauen, trat aus einer Tür ein paar Häuser weiter eine Frau, die halb so groß war wie sie, mit einem Kübel Unrat. Zwei winzige Kinder trotteten hinter ihr her. Die Kinder bemerkten Briony und Ivgenia sofort und starrten sie mit unverhohlener Neugier an, aber die Frau entleerte ihren Kübel und bekam dann erst mit, dass sie beobachtet wurde. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Edelfräulein eine ganze Weile an, so reglos wie eine verschreckte Maus, packte dann ihre Kinder, verschwand hastig in ihrem Eingang und schloss die Tür hinter sich.
»Wenn wir Männer wären oder die Soldaten bei uns hätten, hätte dort jemand die Glocke geläutet.« Ivgenia zeigte auf einen Tempelturm, der ebenfalls nur halb so hoch war, wie man üblicherweise erwartet hätte. »Dann wäre wahrscheinlich gar niemand herausgekommen In der ganzen Straße hier wohnen Leute wie sie. Dutzende und Aberdutzende.«
»Funderlinge?«
»Kallikan, Dummchen? Ihr wolltet sie doch sehen.«
»Bei uns heißen sie Funderlinge. Ich wusste gar nicht, dass es hier auch welche gibt.« Briony schüttelte den Kopf: Es war alles wie ein Traum. »Ist das nicht seltsam — dass sie sogar einen anderen Namen haben? Unsere wohnen in einer eigenen, großen Stadt unter Südmarksburg. Sie haben sie aus dem Fels gehauen, mit einer ganz berühmten Decke, die aussieht wie Blätter und Vögel und ...«
»Der König und die anderen haben unsere gezwungen, hier oben zu bauen, wo man sie sehen kann«, sagte Ivgenia. »Sie können nämlich boshaft sein. Sie stehlen.«
So etwas hatte Briony über die Funderlinge in Südmark nie gehört — die, denen man angeblich nicht trauen konnte, waren die Skimmer mit ihrem seltsamen Aussehen und ihrer seltsamen Sprache. »Habt ihr hier auch Skimmer?«, fragte sie.
Aber Ivgenia war schon weitergegangen und bedeutete Briony, ihr durch das enge, gewundene Sträßchen zu folgen, tiefer hinein in das Kallikanviertel. Jetzt eilten die nervösen Wachen doch hinter ihnen her, und Briony hörte in den oberen Stockwerken Fenster zuknallen und Läden herabrasseln: Die kleinen Leute schützten ihre Geheimnisse vor den Großwüchsigen.
Als sie schließlich nach Weithall zurückkehrten, hatten sie das Abendessen in der großen Tafelhalle verpasst. Ivgenia ging auf die Suche nach etwas Essbarem, aber Briony war müde. Doch auch sie hatte Hunger, und so schickte sie nach einer Weile Talia, ihre jüngste Dienerin, hinunter in die Küchen, damit sie dort um eine Schale Suppe und etwas Brot bäte, während die anderen Dienerinnen Briony halfen, die enge Jacke, die sie beim Ausflug auf den Markt getragen hatte, aufzuschnüren und Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Im Kamin
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