Die Daemmerung
prasselte ein Feuer, und sie wollte nichts lieber, als sich davorzusetzen und ihre eiskalten Zehen zu wärmen.
Sie hatte es sich gerade gemütlich gemacht und wäre vielleicht sogar eingenickt, wenn sie nicht ein lautes Poltern und Klirren draußen auf dem Gang aufgeschreckt hätte. Eine der Dienerinnen rannte zur Tür, spähte hinaus und stieß einen Schrei aus.
Briony zwängte sich an dem verängstigten Mädchen vorbei und sah die kleine Talia bäuchlings auf dem Gangfußboden liegen, in einer Lache aus verschütteter Suppe und irdenen Scherben. Als sie Talia umdrehte, war deren Gesicht dunkelblau und die Augen starr wie vor Entsetzen. Briony sprang auf und kämpfte gegen einen Würgereiz an. Die kleine Dienerin war offensichtlich tot.
»Gift!« Brionys Beine zitterten so heftig, dass sie sich an die Wand lehnen musste. Ihre Dienerinnen und Jungfern drängten sich mit schreckgeweiteten Augen in der offenen Tür. »Das arme Ding. Sie muss auf dem Rückweg etwas von der Suppe getrunken haben. Sie sagte ja, sie habe Hunger. O barmherzige Zoria — das war für mich bestimmt.«
6
Abgebrochene Zähne
Das
Buch der Trauer
ist eine Elbenchronik, die angeblich
die Aufzeichnung all dessen enthält, was je geschehen ist und je geschehen wird. Laut Rhantys bestehen die Seiten sämtlich aus gehämmertem Gold und der Einband aus reinem
Adamant. Einige alte Geschichten besagen, die Ursache der Theomachie — des Götterkriegs — sei nicht die Entführung Zoriens gewesen, sondern der Diebstahl dieses Buches.
Eine Abhandlung über die Elbenvölker Eions und Xands
Barrick hatte seine Schwester Briony oft dafür getadelt, dass sie so wenig auf Ordnung und Sauberkeit achtete. Selbst in warmen Nächten erlaubte sie es Hunden, in ihrem Bett zu schlafen, sie ließ ihre Schuhe liegen, wo sie sie ausgezogen hatte, und drückte noch das dreckigste, ekelhafteste Geschöpf an ihre Brust, solange es nur ein Baby war — ganz gleich ob Welpe, Fohlen, Kätzchen, Lämmchen oder Küken. Doch obwohl Briony ihren penibleren Bruder so oft zur Weißglut getrieben hatte, war es jetzt sein sehnlichster Wunsch, mit ihr sprechen zu können, ihr sagen zu können, wie leid es ihm tat, sie als das schlampigste Wesen bezeichnet zu haben, das je auf Erden gelebt hatte ... denn inzwischen war er eines Besseren belehrt. Keine Kreatur, nicht einmal irgendein Blindwurm, der im Abtritt des Kernios selbst lebte, konnte widerwärtiger sein als der Rabe Skurn mit seinen Mahlzeiten aus Froschlaich und halbverwesten Mäusekadavern, seinem von Ungeziefer besiedelten, räudigen Gefieder und seinem ständigen Geruch nach Blut, Fäulnis und Unflat.
Der große, dunkle Vogel fraß in einem fort, wobei sein Kopf mit der empörenden Regelmäßigkeit eines Wasserrads über irgendeiner Abscheulichkeit auf und ab wippte. Und Skurn fraß schlichtweg alles — Insekten aus der Luft, Kot, den andere Vögel aus den Bäumen fallen ließen, Nackt- und andere Schnecken und was sonst noch zu langsam war, um seinem schwarzen Hornschnabel zu entgehen. Und er war alles andere als ein manierlicher Esser: Seine Brust war stets mit Überresten dessen verkrustet, was seine letzte Mahlzeit gebildet hatte, und nicht selten enthielt dieser Unrat Teile, die noch leise zuckten. Und Skurns sonstige Gewohnheiten waren noch grässlicher. Er achtete ohnehin nicht sonderlich darauf, wo er sich erleichterte, doch wenn er erschrak, kam ihm endgültig aller Anstand abhanden: Kot kleckste dann auf Barricks Schulter oder gar in sein Haar.
»Scheißt aber doch nicht mit Absicht auf Euch, unsereins«, erklärte Skurn nach einem solchen Vorfall, als ihn ein herabfallender Ast erschreckt hatte. »Und Ihr müsst zugeben, bislang hat Euch unsereins so geführt, dass Ihr vor Seidenwicklern bewahrt geblieben seid.«
Das zumindest stimmte. Seit Skurn wieder da war, hatte er Barrick durch den Seidenwald gelotst, ohne dass es zu einer weiteren Berührung mit den Kreaturen gekommen war, denen dieser seinen Namen verdankte. Vor mehreren Schlafpausen waren ihnen zwei der lautlosen Schleicher eine Weile gefolgt, ohne jedoch näher heranzukommen als bis ins tiefere Geäst. Vielleicht, dachte Barrick mit einem Anflug von Stolz, hatte sich ja herumgesprochen, wie er mit ihresgleichen verfuhr. (Wahrscheinlicher aber war, wie er selbst einsah, dass sie nur warteten, bis sich mehr von ihnen versammelt hatten.)
Gestern und heute hatte er nichts von ihnen gesehen und es sogar geschafft, ein paar Stunden zu schlafen,
Weitere Kostenlose Bücher