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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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während Skurn die Wache übernommen hatte — angeblich zumindest: Skurn war nicht nur egoistisch, sondern auch alt. Einmal hatte ihn Barrick mitten im Flug einnicken sehen: Er hatte die Kontrolle über seine Flügel verloren, war mit dem Kopf gegen einen Baumstamm gekracht und zu Boden getrudelt wie ein Klumpen schwarzes Laub. Als Barrick zu ihm geeilt war, war er fest davon ausgegangen, dass sich der Rabe das Genick gebrochen hatte.
    Ist es Blasphemie,
hatte sich Barrick unwillkürlich gefragt,
Götter anzurufen, an deren Existenz man nicht allzu fest glaubt und an deren Güte man eindeutig zweifelt, nur um für das Leben eines Untiers von Vogel zu beten, das man nicht einmal leiden kann?
    »Ich glaube, du hast keine Ahnung, wo du mich hinführst«, brüllte er den Vogel an. »Wir gehen im Kreis!«
    »Gar nicht im Kreis«, wehrte sich Skurn. »Sieht nur alles gleich aus, das, weil's immer so weitergeht.«
    »Ich glaube dir nicht.«
    Wegen des Nebels, der dichten Bäume und des ewigen Zwielichts hatte Barrick nie eine richtige Vorstellung davon bekommen, wo er sich befand oder wie der jeweilige Teil der Zwielichtlande beschaffen war, doch jetzt trotteten sie schon so lange durch endlosen, immergleichen Wald, dass der Drang, irgendetwas von der Umgebung zu sehen, übermächtig wurde. Deshalb begann Barrick, sehr zu Skurns Missfallen, bergauf zu stapfen, in der Hoffnung, auf eine Lücke in den Bäumen zu stoßen, die irgendeine Art von Aussicht bot.
    »Fernhalten von allem, was hoch ist, immer schön unten bleiben«, sagte Skurn, während er nervös flatternd den tiefhängenden Ästen auszuweichen suchte. »So ist's vernünftig? Weiß doch jeder?«
    »Ich nicht.« Barrick wollte nicht reden. Sein Arm schmerzte bereits, und er wollte sich seinen Atem für den Aufstieg sparen.
    Murrend flatterte der Rabe hangaufwärts voraus, kam aber bald schon zurück.
    »Glaubt jetzt zu wissen, wo wir sind, unsereins. Gibt Stoltewichte in dieser Gegend. Nisten hier überall.«
    »Stoltewichte? Nisten?« Barrick schüttelte den Kopf »Sind die schlimmer als die Seidenwickler?«
    Skurn zog den Kopf zwischen die befiederten Schultern — ein Achselzucken nach Rabenart. »Wohl nicht, würd unsereins sagen. Können sogar ganz schlürfbar sein, selbige, wenn man's schafft, sie von ihren Panzern zu trennen ...«
    »Dann lass mich in Frieden.«
    »Vielleicht nicht schlimmer als Seidenwickler«, brummelte der Rabe. »Aber von
nett
hat unsereins nichts gesagt.«
    Dem Gefühl nach eine Stunde später mühte sich Barrick immer noch bergan. Er versuchte zu ignorieren, dass sein Arm wie Feuer brannte, wenn er sich über umgestürzte Bäume und durch Gestrüpp hangelte — am schlimmsten waren die Kriechranken mit den winzigen Dornen und den kohlkopfgroßen, samtschwarzen Blüten, die auf langen Stielen wippten. Dieses Kriechgewächs schien ganze Hügelflanken zu kolonisieren und alles andere zu ersticken, selbst kleinere Bäume, und es wuchs so dicht, dass er eine Sichel gebraucht hätte, um sich hindurch zu schlagen, obwohl auch das noch schweißtreibende Schwerarbeit gewesen wäre. Sooft Barrick auf die Schwarzblütenranken stieß — und sie waren in diesen Hügeln überall —, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu umgehen. Doch ein Vorteil des ewigen Zwielichts war, dass es zwar nie richtig hell, aber auch nie richtig dunkel wurde. Wenigstens brauchte er nicht zu befürchten, an diesem unwirtlichen Hang von der Nacht überrascht zu werden.
    Doch woher kam dieses ewige Zwielicht? Barrick verstand ja, dass Wolken und Nebel das Land gegen die Sonne abzuschirmen vermochten, aber wie konnten sie Licht hier unten festhalten, wenn die Sonne untergegangen war? Sogen sie die Sonnenstrahlen am Tag auf wie ein trockener Lappen eine Wasserpfütze, sodass noch Licht wieder heraussickerte, wenn die Sonne längst weg war?
    Was spielt das für eine Rolle? Es ist auch nur so ein Zwielichtlerzauber.
Aber es veranlasste ihn doch, über die Götter nachzudenken, die nach allem, was er gehört hatte, gar nicht so anders zu sein schienen als die Menschen, zumindest nicht in ihrer Art zu leben. Vielleicht waren ja Kernios und die anderen nicht zu Herren des Menschengeschlechts geworden, weil sie Götter waren — vielleicht waren sie ja vielmehr deshalb Götter, weil sie mächtig genug gewesen waren, sich zu Herren des Menschengeschlechts aufzuschwingen ...
    Skurn fiel so plötzlich vom Himmel und genau auf Barricks Schulter, dass der vor Schreck laut

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