Die Daemmerung
wartet.«
»Ha. Und woher weiß ich, dass Ihr mich nicht vergiften wollt?« Vo schwenkte die lange, breite Klinge seines Messers vor dem Gesicht des Alten. »Ihr werdet mir zeigen, wie viel man nimmt. Ihr werdet es zuerst einnehmen.«
Malamenas Kimir zuckte die Achseln. »Gern. Aber ich habe es eine ganze Weile nicht mehr genommen. Ich fürchte, dann bekomme ich heute Nachmittag nicht mehr viel getan.« Er grinste wieder. »Doch Eure Dankbarkeit wird sicher so groß sein, dass ich es mir leisten kann, den Laden für heute zu schließen.« Er ruckelte den Stopfen aus dem schwarzen Glasfläschchen, suchte dann irgendetwas.
»Und woher wisst Ihr, dass ich Euch nicht töte, Alter, wenn ich habe, was ich will?«
Der alte Mann kam zurück, eine silberne Nadel zwischen Zeigefinger- und Daumenkuppe. »Weil das Gift äußerst rar ist. Ihr könntet es an hundert Orten vergeblich suchen. Wenn Ihr mich am Leben lasst, besorge ich Euch mehr, und wenn Ihr es das nächste Mal braucht, werdet Ihr es hier finden. Ich kenne Euren Namen nicht, und selbst wenn ich ihn wüsste, würde ich nichts über einen Kunden ausplaudern, also hättet Ihr keinen Vorteil davon, mir etwas anzutun.«
Vo starrte ihn einen Moment an. »Zeigt mir, wie viel ich nehmen soll.«
»Nur den einen Tropfen, den Ihr mit der Spitze dieser Nadel entnehmen könnt — auf keinen Fall größer als ein Rettichsamen.« Kimir tauchte die Nadel in das Fläschchen und zog sie wieder heraus: An der Spitze hing eine winzige Flüssigkeitsperle von der Farbe roten Bernsteins. Kimir führte die Nadelspitze an seinen Mund und leckte den Tropfen ab. »Einmal täglich. Aber passt auf«, sagte er. »Eine wesentlich größere Menge auf ein Mal bringt selbst ein starkes Herz wie das Eure zum Stillstand.«
Vo saß da und beobachtete ihn fast eine Stunde lang, aber im Verhalten des Mannes änderte sich wenig. Mit Vos Erlaubnis begann er sogar, seinen Laden aufzuräumen, wenn sein Tun auch etwas träge wirkte.
»Es kann beinah schon angenehm sein«, sagte Kimir irgendwann. »Ich hatte es schon so lange nicht mehr probiert, dass es mir fast entfallen war. Meine Lippen fühlen sich allerdings etwas eigenartig an.«
Vo interessierte nicht, wie sich die Lippen des Alten anfühlten. Als ihm schließlich sicher schien, dass keine Hinterlist im Spiel war, entnahm er der Flasche einen noch etwas kleineren Tropfen und leckte die Nadel ab.
»Und davon wird das Ding in mir dauerhaft schlafen?«
»Wenn Ihr den Tigertod immer weiter nehmt, ja«, erklärte Kimir. »Was Ihr hier habt, müsste Euch bis zum Ende des Sommers reichen. Es hat mich zwei Silberimperial gekostet.« Wieder dieses Grinsen — wie ein Fuchs, der eine Schar fetter Wachteln beobachtet. »Ich überlasse es Euch zum selben Preis, weil Ihr ein Dauerkunde sein werdet.«
Vo klatschte das Geld auf den Tisch und ging hinaus. Der Alte sah ihm nicht einmal nach, so beschäftigt war er damit, die Schubladen seines Apothekerschranks neu anzuordnen.
Vo fühlte sich ein bisschen merkwürdig, aber nicht schlimmer als nach einem Krug Bier an einem heißen Tag. Er würde sich dran gewöhnen. Seine Reaktionsschnelligkeit würde es nicht beeinträchtigen, dafür würde er sorgen. Notfalls würde er eben eine kleinere Dosis nehmen. Es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass der Autarch, wenn er ihm das Mädchen lieferte, seine Nützlichkeit erkennen und zum Lohn diese Kreatur aus seinem Inneren entfernen würde. Wer konnte ausschließen, dass es sich zum Guten wenden würde? Wenn der Autarch zwei ganze Kontinente regieren wollte, würde er starke, kluge Männer brauchen. Er würde keinen besseren Vizekönig finden als Daikonas Vo, einen Mann, der nicht wie die meisten seiner Brüder ein Spielball seiner fleischlichen Gelüste war. Selbst über ein Land zu herrschen würde wahrhaftig eine interessante Erfahrung sein ...
Vo blieb stehen, weil er registrierte, dass etwas nicht stimmte, auch wenn er im ersten Moment nicht wusste, was. Er befand sich in einer Kurve der Hauptbazaarstraße, wo auf der einen Seite der Hang steil abfiel, sodass der Blick auf den Hafen hinabging. Die Morgensonne stand jetzt hoch am Himmel, der wolkenlos war ... aber direkt überm Wasser hingen Wolken.
Rauch.
Er starrte hinab. Das Gefühl der Beinahe-Zufriedenheit fiel jäh von ihm ab, und stattdessen waren da jetzt Zorn und etwas, das vielleicht sogar Angst hätte sein können.
Drunten im Hafen sah er das xixische Schiff —
sein
Schiff — in Flammen
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