Die Daemmerung
geben, aus Angst, sie würde sich selbst verbrennen, was Blödsinn war. Qinnitan hing zwar nicht mehr sonderlich an ihrem Leben und würde es gewiss gern hergeben, wenn es das einzige wäre, was sie davor bewahren konnte, Sulepis in die Hände zu fallen — aber sie würde niemals den Jungen opfern, solange auch nur die winzigste Hoffnung bestand, ihn zu retten.
Dennoch, eine Kerze oder Lampe würde die langen Nachtstunden schneller vergehen lassen. Sie konnte nicht ewig schlafen — im Unterschied zu Spatz, der es jederzeit und beliebig lange zu können schien. Das Wachliegen würde ihr leichter fallen, wenn sie dabei etwas betrachten könnte. Noch besser wäre ein Buch — Baz'u Jev oder irgendwelche anderen Gedichte, irgendetwas, um sich abzulenken.
Aber das würde nicht passieren, jedenfalls nicht, solange ihr Entführer hier an Bord das Kommando hatte. Er war grausam und schlau und schien überhaupt kein Herz zu haben. Sie hatte alles probiert — Unschuld, Koketterie, kindliche Angst. Er war ungerührt geblieben. Wie sollte sie je einen solchen Mann überlisten können, einen Mann aus kaltem Stein? Aber aufgeben konnte sie auch nicht.
Licht. Wie riesig Kleinigkeiten werden konnten, wenn sie unerreichbar waren. Licht. Etwas zu lesen. Gehen zu können, wohin man wollte. Nicht fürchten zu müssen, von einem wahnsinnigen Herrscher gepeinigt und getötet zu werden. Dinge, von denen die meisten Menschen gar nicht wussten, dass sie sie besaßen, die in Qinnitans Augen aber wertvoller waren als alles Gold der Welt.
Doch im Moment hätte sie einfach nur gern eine Lampe gehabt ...
Ihr kam eine Idee — eine Idee, die ihr Angst machte, sich aber trotzdem nicht wieder verscheuchen ließ. Spatz stöhnte im Schlaf und drückte ihren Arm, als spürte er, was sie dachte, aber Qinnitan merkte es kaum. Das Schiff dümpelte vor Anker und knarrte leise, während sie, von dem Jungen umklammert, im Dunkeln lag und einen Plan schmiedete, wie sie beide entweder entkommen oder aber sterben würden.
Daikonas Vo war wie üblich schon vor Tagesanbruch aufgestanden. Er hatte nie viel Schlaf gebraucht, und das war auch gut so gewesen: Das Haus seiner Kindheit mit dem ständigen Kommen und Gehen männlicher Besucher und den lärmenden Trinkgelagen hätte ihm wenig Ruhe zum Schlafen gelassen.
Er hatte mit dem Kapitän gesprochen und mit dem Optimarchen, dem Anführer der Soldaten auf dem Schiff, hatte beide in ihren Kabinen geweckt, noch ehe das erste Tageslicht die Wolken über ihnen färbte, und ihnen klargemacht, dass schwer abzusehen war, was schlimmer für sie wäre, sollte dem Mädchen in seiner Abwesenheit irgendetwas passieren — der Zorn des Autarchen oder seiner. Keiner der beiden mochte ihn, aber wer mochte ihn schon? Was zählte, war die Vollmacht des Autarchen. Und wichtiger noch, er hatte in den Augen beider Männer Angst gesehen, im wütenden Starren des Kapitäns besser kaschiert als in dem des (ein paar Rangstufen über Vo stehenden) Optimarchen, aber dennoch erkennbar. Und auf diese Angst vertraute er weit mehr als auf ihre Angst vor dem Autarchen. Sulepis
war
furchterregend, aber er war weit weg. Vo war hier, und sie würden keinen Moment vergessen, dass er bei Einbruch der Dunkelheit wieder an Bord sein würde.
Er stieg aus dem Boot auf den Anleger und ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen, wohl wissend, dass die Ruderer hinter ihm die Köpfe schüttelten und das Zeichen gegen das Böse machten. Vo genoss seine Unbeliebtheit. Bei seiner eigenen Truppe, wo er jahrelang mit denselben Männern hatte zusammenleben müssen, war es etwas anderes gewesen. Da hatte er es nicht so weit treiben wollen, dass sie noch beschlössen, sich zusammenzurotten und ihn im Schlaf zu erstechen. Doch auf dem Schiff, wo mehrere Männer im Rang über ihm standen und er nur die Vollmacht des Autarchen hatte, um sich Respekt zu verschaffen, wollte er alle auf Armeslänge von sich halten. Die größte Gefahr ging schließlich nicht von offenen Feinden aus, sondern von vermeintlichen Verbündeten. Da konnte man kalt überrascht werden. So wurden Könige und Autarchen ermordet.
Vor ihm erhoben sich die drei berühmten Hügel von Agamid. Sie blickten auf die Hafenstadt herab, die sich an den Fuß des höchsten Hügels schmiegte und bis an die weite Bucht herabzog. Schon bei Tagesanbruch herrschte hier rege Geschäftigkeit: Die Straßen waren voll mit Karren, die den Morgenfang der Fischer und die ersten Waren der nachts eingelaufenen
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