Die Daemmerung
Während der Junge mit erwachender Furcht zusah, hob sie die Kerze an den parfümgetränkten Lappen. Gleich darauf züngelten durchsichtig-blaue Flammen aus dem Stoff.
»Runter«, befahl sie Spatz. »Auf den Fußboden. Halt dir das hier vor den Mund — so.« Sie nahm einen der wassergetränkten Deckenstreifen und hielt ihn sich vor den Mund. Wie alle Bienentempelpriesterinnen hatte sie die Geschichte von dem schrecklichen Brand vor siebzig Jahren gehört, als die Wandteppiche in dem großen Raum mit den Bienenstöcken Feuer gefangen hatten und die meisten Bienen — und auch viele Priesterinnen und Novizinnen — umgekommen waren. Die alte Mutter Mudry, damals eine junge Frau und zu Qinnitans Zeiten die einzige noch lebende Augenzeugin des Brandes, war der Feuersbrunst deshalb entronnen, weil sie gerade vom Bad kam, mit nassem Haar und nassen Kleidern, die sie sich vors Gesicht zog. So hatte sie in dem erstickenden, dichten Rauch lange genug überlebt, um den Weg ins Freie zu finden. Doch Qinnitan und Spatz standen jetzt vor einer noch schwereren Aufgabe.
»Wir müssen am Leben bleiben, bis jemand die Tür eintritt«, erklärte sie dem Jungen. Sie musste laut sprechen, damit er sie durch das nasse Tuch verstehen konnte. Die Flammen schwärzten jetzt da, wo der Lappen steckte, bereits das Holz und sahen nicht aus, als würden sie wieder erlöschen. Als sie die äußeren Planken mit der Teerabdichtung erreichten, hoffte Qinnitan, dass dem Feuer jetzt kein Einhalt mehr zu gebieten war. »Bleib ganz tief am Boden und atme nur durch den nassen Stoff. Wenn er trocken wird und du den Rauch schmecken kannst, tauch den Stoff wieder hier hinein.« Sie zeigte auf den Krug. »Hinlegen!«
O kühner Nushash,
flüsterte sie, ehe ihr aufging, dass der Gott des Feuers vielleicht nicht die beste Wahl war. War nicht der Autarch ein Sohn des Nushash? Qinnitan widersetzte sich seinem Willen — vielleicht würde ihr Nushash das ja verübeln.
Suja, die Blume der Morgenröte. Natürlich — Suja war von der Seite ihres Ehemannes entführt worden und hatte in der Welt umherirren müssen. Von allen Göttern würde Suja sie am besten verstehen.
Bitte, o Blume der Morgenröte,
betete Qinnitan, den zitternden Jungen an sich gepresst, während der Rauch unter der Decke der kleinen Kabine immer dichter wurde. Sie roch ihn bereits durch die nasse Wolle, wollte aber das restliche Wasser noch aufsparen — allein die Götter wussten, wie lange sie hier noch ausharren mussten.
Steh uns in dieser Stunde bei. Erweise mir deine Gunst und Gnade. Mach, dass ich dieses Kind beschützen kann. Hilf uns, denen
zu
entfliehen, die uns Böses wollen. Erweise uns deine vielgerühmte Barmherzigkeit ...
Als sie zu Ende gebetet hatte, kniff sie die Augen gegen den beißenden Rauch fest zu und wartete.
Sie stopfte den Wolltuchstreifen ganz tief in den Krug, bis auf den Grund, doch als sie ihn wieder herauszog, schien er noch trockener als vorher. Auch der Fetzen, den sie sich ans Gesicht presste, war knochentrocken — Rauchgeruch füllte ihre Nase. Neben ihr hustete Spatz heftig, und sein kleiner Körper bebte und rang nach Luft, dass es ihr schier das Herz brach. Durch die dicken Rauchschwaden konnte sie nicht einmal mehr die Tür sehen.
Mir macht es nichts aus
zu
sterben,
erklärte sie Suya und allen anderen gütigen Göttern, die ihr zuhören mochten,
und was dann mit mir geschieht, ist mir gleich. Aber, bitte, wenn der Junge auch sterben muss, kümmert euch im Himmel gut um ihn. Er ist unschuldig.
Armer Spatz.
Was für ein schreckliches Leben, das ihm die Götter zugedacht hatten — seiner Zunge und seiner Männlichkeit beraubt und dann noch gezwungen, um sein Leben zu rennen, nur weil er am falschen Ort gewesen war, als der Autarch einen seiner Feinde hatte ermorden lassen.
Das ist ... nicht ... gerecht ... armer ...
Qinnitan schüttelte den Kopf. Sie sah jetzt fast nichts mehr und musste darum ringen, überhaupt Luft in ihre Lunge zu bekommen. Spatz bewegte sich kaum noch. Gleichzeitig hallte ein dröhnender Druck durch sie hindurch, als ob sie unter Wasser wäre und der Kapitän eines vorzeiten gesunkenen Kauffahrers auf dem Meeresgrund seine Schiffsglocke läutete.
Bumm.
Bumm. Bumm.
Qinnitan fand es seltsam unter Wasser. Das Atmen schmerzte, aber nicht so, wie sie erwartet hätte — und das Wasser war so trüb. Sand. Jemand oder etwas hatte den Sand am Meeresgrund aufgewühlt, sodass er in Schwaden um sie herumwirbelte, gesprenkelt mit Gold,
Weitere Kostenlose Bücher