Die Daemmerung
stehen.
Soweit Qinnitan sagen konnte, war die Sonne schon vor mindestens einer Stunde aufgegangen, und der namenlose Mann schien das Schiff verlassen zu haben, jedenfalls war er nicht hereingekommen, um sie mit seinem leeren Gesicht zu inspizieren, wie er es sonst jeden Tag etwa bei Sonnenaufgang das erste Mal getan hatte.
Nicht da also ... vielleicht. Wenn ja, war das womöglich das letzte Mal, dass sie sich außerhalb seiner Reichweite befanden, ehe er sie den goldfingrigen Händen des Autarchen übergeben würde. Wenn sie je einen Fluchtversuch wagen wollte, dann jetzt.
Sie bummerte laut gegen die Tür, ignorierte Spatz' besorgtes Gesicht. Schließlich wurde der Riegel weggezogen, und einer der Wachsoldaten lugte herein. Sie sagte ihm, was sie wollte. Er runzelte unsicher die Stirn und eilte dann davon, um seinen Vorgesetzten zu holen.
Zwei Offiziere kamen und gingen wieder, ehe schließlich der Kapitän selbst erschien, für Qinnitan ein sicheres Zeichen, dass der namenlose Mann nicht an Bord war. Trotzdem fürchtete ihn der Kapitän, was sie an seinem nervösen Verhalten ihr gegenüber merkte. Ganz offensichtlich wusste er wenig über sie, außer dass sie zum Autarchen gebracht werden sollte.
»Ich bin eine Priesterin des Bienentempels«, erklärte sie ihm zum dritten Mal. »Ich muss heute zu Nushash beten. Heute ist der Tag der Schwarzen Sonne.« Sie hoffte, dass dieser erfundene Name unheilvoll genug klang.
»Und du meinst, dafür lasse ich dich an Deck?« Er schüttelte den Kopf »Nein. Nein und nochmals nein.«
»Ihr wollt Unheil auf Euer Schiff herabbeschwören? Indem Ihr dem Gott an diesem Tag aller Tage seine Gebete verwehrt?«
»Nein. Ich müsste dich mit Wachen umstellen, und ich wage es, ehrlich gesagt, nicht, hier in diesem Hafen so viele Männer offen zu zeigen. Wir sind schließlich nicht zu Hause.« Er merkte, dass er mehr gesagt hatte, als er hätte sollen, und sah Qinnitan finster an, als wäre es ihre Schuld, dass er seine Zunge nicht im Zaum halten konnte. »Nein. Du kannst beten, bis du heiser bist, aber nur in deiner Kabine.«
»Aber ich kann nicht beten, ohne die Sonne zu sehen. Das ist eine Beleidigung des Gottes!« Jetzt betete sie wirklich, darum, dass er es für seine eigene Idee halten würde. »Ich muss entweder die alles beherrschende Sonne sehen können oder — ein Feuer. Doch auch das habe ich nicht.«
»Ein Feuer? Lächerlich. Ich denke, eine Lampe könntest du haben. Oder eine Kerze. Ja, das ist sicherer. Würde eine Kerze genügen, um den Gott bei Laune zu halten?«
»Verspottet die Götter nur — das ist Euer Risiko«, sagte sie streng, aber innerlich war sie ganz trunken vor Erleichterung. »Eine Lampe würde reichen.«
»Nein, eine Kerze. Das oder gar nichts, und das Risiko mit den Göttern nehme ich auf mich.«
Qinnitan gab sich alle Mühe, wie eine verwöhnte Priesterin dreinzublicken, die es gewohnt war zu bekommen, was sie wollte. »Ach, na gut«, sagte sie schließlich. »Wenn das alles ist, was Ihr tun könnt.«
»Sag den Göttern, dass ich dich nicht behindert habe«, erwiderte er. »Sei ehrlich! Dem Himmel muss man immer die Wahrheit sagen.«
Nach einer quälenden Wartezeit brachte ihr endlich ein Seemann eine Kerze in einem Tonnapf. Es war ein mickriges Kerzchen, kaum größer als ihr Daumen, die Flamme so klein wie ein Fingernagel. Als sie wieder allein waren, stellte sie die Kerze auf den Boden und begann, ihre Decke in lange Streifen zu reißen. Spatz saß mit großen Augen da und machte eine fragende Gebärde. Sie lächelte, wie sie hoffte, beruhigend. »Ich zeig's dir gleich. Jetzt hilf mir erst mal. So breit, die Streifen.«
Als die Decke in etwa zwei Dutzend Streifen zerrissen war, nahm sie den Wasserkrug unterm Bett hervor. Vom Wasser von gestern Abend hatte sie nur ein paar Tropfen getrunken und den Rest aufgespart. Jetzt reichte sie Spatz den Krug. »Steck die Streifen da rein — so.« Sie stopfte einen in den Krug, zog ihn dann wieder heraus und wrang das überschüssige Wasser in das Gefäß aus. »Jetzt du. Nur ein paar, die übrigen lass trocken.«
Während Spatz, verdutzt aber willig, die Wollstoffstreifen mit Wasser zu tränken begann, nahm Qinnitan ein kleines Parfümfläschchen heraus, das ihr eins der anderen Mädchen in Hierosol geschenkt hatte. Sie zog den Stopfen heraus, goss das Parfüm auf einen der Deckenstreifen, die sie behalten hatte, und stopfte diesen dann in eine Ritze zwischen den Brettern der Kabinendecke.
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