Die Dämonen
westliche Welt verdorben. Sie wiesen speziell darauf hin, wenn Frankreich unglücklich sei, so sei einzig und allein der Katholizismus daran schuld; denn dieses Land habe den stinkenden römischen Gott verworfen, einen neuen aber nicht gefunden. So haben Sie damals reden können! Ich erinnere mich an alles, was Sie sagten.«
»Wenn ich gläubig wäre, so würde ich dies ohne Zweifel auch jetzt wiederholen; ich habe nicht gelogen, als ich wie ein Gläubiger sprach,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch sehr ernst. »Aber ich versichere Ihnen, daß diese Reproduktion meiner früheren Gedanken bei mir eine sehr unangenehme Empfindung hervorruft. Können Sie nicht damit aufhören?«
»Wenn Sie gläubig wären?!« schrie Schatow, ohne auf die Bitte seines Gastes die geringste Rücksicht zu nehmen. »Aber haben Sie nicht zu mir gesagt, wenn man Ihnen mathematisch bewiese, daß die Wahrheit außerhalb Christi liege, so würden Sie doch lieber bei Christus bleiben wollen als bei der Wahrheit? Haben Sie das gesagt? Haben Sie es gesagt?«
»Aber gestatten Sie auch mir endlich die Frage,« versetzte Stawrogin mit erhobener Stimme: »wozu soll dieses ganze intolerante, boshafte Examen führen?«
»Dieses Examen wird für alle Zeit ein Ende haben, und Sie werden nie wieder daran erinnert werden.«
»Sie bleiben hartnäckig bei Ihrer Meinung, daß wir uns außerhalb von Raum und Zeit befinden.«
»Schweigen Sie!« schrie Schatow. »Ich bin dumm und ungeschickt; aber mag mein Name im Fluche der Lächerlichkeit untergehen! Erlauben Sie mir, vor Ihren Ohren Ihre damalige Anschauung in den Hauptzügen zu wiederholen ... Oh, nur zehn Zeilen, nur den zusammenfassenden Schluß.«
»Tun Sie es, vorausgesetzt, daß das dann wirklich der Schluß ist ...«
Stawrogin machte eine Bewegung, als wollte er nach der Uhr sehen; aber er beherrschte sich und unterließ es.
Schatow bog sich wieder auf dem Stuhle nach vorn und wollte einen Augenblick lang sogar schon wieder den Finger aufheben.
»Kein einziges Volk,« begann er, als läse er Zeile für Zeile aus einem Manuskripte ab, und fuhr gleichzeitig fort, Stawrogin drohend anzublicken, »kein einziges Volk hat sich jemals nach den Prinzipien der Wissenschaft und der Vernunft organisiert; dafür hat es niemals ein Beispiel gegeben, außer auf ganz kurze Zeit, aus Dummheit. Der Sozialismus muß schon seinem Wesen nach Atheismus sein; denn er hat das gleich von vornherein ausdrücklich ausgesprochen, daß er eine atheistische Institution ist und sich ausschließlich nach den Prinzipien der Wissenschaft und der Vernunft organisieren will. Vernunft und Wissenschaft haben im Leben der Völker immer, jetzt und vom Anfang aller Dinge an, nur eine Stellung zweiten Ranges, eine dienende Stellung eingenommen, und so wird es auch bis zum Ende aller Dinge bleiben. Es ist eine andere Kraft, durch die sich die Völker bilden und bewegen, eine befehlende und herrschende Kraft, deren Ursprung aber unbekannt und unerklärlich ist. Das ist die Kraft des unstillbaren Verlangens, das bis ans Ende gehen möchte und doch zugleich das Ende verneint. Das ist die Kraft der ununterbrochenen, unermüdlichen Bejahung der eigenen Existenz und der Verneinung des Todes; es ist der Geist des Lebens, wie die Schrift sagt, die ›Ströme lebendigen Wassers‹, mit deren Versiegen die Offenbarung St. Johannis so droht. Es ist ein ästhetisches Prinzip, wie die Philosophen sagen, oder, was damit identisch ist, ein ethisches Prinzip. Ich nenne es ganz einfach ›das Suchen nach Gott‹. Das Ziel einer jeden Volksbewegung, bei jedem Volke und in jeder Periode seines Daseins, ist einzig und allein das Suchen nach Gott, nach seinem Gott, unbedingt nach seinem eigenen Gott, und der Glaube an ihn als an den einzig wahren. Gott ist die synthetische Persönlichkeit des ganzen Volkes, von seinem Beginn bis zu seinem Ende. Noch nie ist es vorgekommen, daß alle oder viele Völker einen gemeinsamen Gott gehabt hätten; sondern ein jedes hat immer seinen besonderen gehabt. Es ist ein Symptom des Schwindens der Nationalität, wenn die Götter anfangen gemeinsam zu werden. Wenn die Götter gemeinsam werden, so sterben die Götter und der Glaube an sie mitsamt den Völkern selbst ab. Je stärker ein Volk ist, um so ausschließlicher gehört ihm sein Gott. Noch niemals hat es ein Volk ohne Religion gegeben, das heißt ohne den Begriff des Guten und des Bösen. Jedes Volk hat seine besonderen Begriffe von Gut und Böse und sein besonderes
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