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Die Datenfresser

Titel: Die Datenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kurz
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undurchsichtigen Händler am Rande der Stadt gute Erfahrungen gemacht hat oder nur mit Neuwagen vom autorisierten Werksvertreter zufrieden sein wird. In der digitalen Welt verlieren sich aber die Anhaltspunkte, nach denen wir üblicherweise Risiken einschätzen. Einer virtuellen Verkaufsplattform oder Webseite sieht man nicht mehr an, ob der Autohändler aus einer dunklen Bruchbude an der Ausfallstraße operiert oder in einem glitzernden Neubau residiert.
    Es muß natürlich jeder für sich selbst entscheiden, ob er ein Problem damit hat, daß viele vieles über ihn wissen können – oder er doch lieber ein wenig vorsichtiger mit seinen Daten umgeht. Mitbedacht werden müssen allerdings die »Kollateralschäden«, die man anderen Menschen durch die eigene freiwillige Datenweggabe zufügen kann. Die persönlichen Datentransparenzvorstellungen anderen zu oktroyieren stellt sich dabei nicht selten als Trugschluß heraus. Das schwule Großstadtpärchen findet es vielleicht anregend und risikolos, sich im Latex-Dress ganz offen auf einer Dating-Plattform zu präsentieren. Für jemanden mit ähnlichen Neigungen, der aus einer schwäbischen Kleinstadt kommt, sieht die Lage möglicherweise ganz anders aus, er und vielleicht auch seine Familienangehörigen brauchen vermutlich deutlich mehr Diskretion. Die letztjährige Studie »Gaydar« des Massachusetts Institute of Technology ( MIT ) wies darauf hin, daß diese Diskretion auch unbewußt ausgehebelt werden kann. Die Forscher hatten zeigen können, daß ihre Algorithmen die sexuelle Orientierung der Facebook-Nutzer nur anhand ihrer Freundeslisten vorhersagen konnten.
    Das kleine Beispiel macht schon einen wichtigen Grundsatz deutlich: Man sollte sich über den sozialen Spielraum klarwerden, in dem man sich ganz real bewegt. Die impliziten und expliziten Normen des eigenen sozialen Umfelds sind ein erster wichtiger Anhaltspunkt für das, was man von sich und anderen im Netz preiszugeben bereit sein sollte. Die Annahme, der Nachbar oder die Chefin würde sich schon nicht auf der gleichen Dating-Plattform oder virtuellen Fetisch-Nische herumtreiben wie man selbst, ist möglicherweise leichtsinnig.
    Der Unterschied zu früheren sozialen Normen: Hätte man den Nachbar in einem Sex-Shop oder beim Pokerturnier getroffen, wäre das Diskretionsbedürfnis früher wahrscheinlich ein gegenseitiges gewesen. Im Internet hingegen kann jeder sehen, ohne gesehen zu werden – auch über längere Zeiträume hinweg. Jugendliche entdecken diese Regel häufig, wenn ein Erziehungsberechtigter wider Erwarten die wilden Partybilder auf Facebook oder Studi VZ findet, die dort sorgenfrei hochgeladen wurden. Schlimmer noch, wenn es zur Gewißheit wird, daß Mama längst über den Tadel in der Schule und alles über die erste Liebe in den Sommerferien gelesen hat. Der Schock, daß plötzlich auch die nächste Verwandtschaft, vor allem die mit der Erziehungsberechtigung, die eigene Facebook-Seite oder das kleine Nischenblog liest, das doch eigentlich nur für die Freunde gedacht war, sitzt dann oft tief.
    Man kann im Internet nicht mehr davon ausgehen, nicht gefunden zu werden, wenn man nicht explizite Mittel der Informationskontrolle, wie Zugangsbeschränkungen, Pseudonymisierung oder Anonymisierung, benutzt. Doch nicht nur der Zugang zur Information kann asymmetrisch sein, auch die Weitergabe kann erfolgen, ohne daß auf den Autor der Zeilen geschlossen werden kann. Wer aus der Schulklasse oder dem Kollegenkreis die kompromittierenden Fotos von der ausschweifenden Weihnachtsfeier hochgeladen hat, muß also nicht feststellbar sein.
    Es gibt die Theorie, daß die Gesellschaft insgesamt transparenter, toleranter, verständnisvoller oder auch ignoranter gegenüber exzentrischem Verhalten, bunterem Liebesleben, bizarren Hobbies und abweichenden Ansichten wird, sobald das allgemeine Ausmaß des Nicht-normal-Seins für jedermann sichtbar wird. Mit vollkommener Transparenz des einzelnen käme auch die tolerante, offene Gesellschaft, in der niemand mehr wegen seines Andersseins diskriminiert wird, so die romantische Vorstellung.
    Was die Protagonisten dieser Idee verkennen: Sie mag für einen kleinen, privilegierten Teil der Menschheit zutreffen, der in ohnehin toleranten – oder auch ignoranten – Großstädten und Milieus lebt. Für viele andere kann ein zwangsbeglückender Transparentmachungswahn schnell in die soziale oder persönliche Katastrophe führen. Dazu muß man nicht einmal Oppositionelle in

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