Die deutsche Götterlehre
der Schuhschnalle hängen; jetzt sieht er plötzlich einen Eingang in den Berg, den er vorher nie gesehn. Er tritt ein und sieht Gold und Edelsteine und Reichthümer jeder Art die Hülle und Fülle; er legt den Hut ab, die Blume auf einen Tisch und fängt an, seine Taschen zu füllen. Als er schwer beladen sich wieder entfernen will, ruft eine Stimme: Vergiss des Beste nicht; er glaubt unter dem Besten sei diese oder jene Kostbarkeit gemeint, und nimmt mehr und mehr; als die Stimme abermals ruft, achtet er ihrer nicht mehr und geht; es war die höchste Zeit, hinter seiner Ferse schlägt die Thür des Berges zu und er findet sie nicht wieder, denn das Beste war die Wunderblume, deren eine davon ihren Namen Vergissmeinnicht trägt. Andere dieser Blumen sind purpurn, blau, weiss, einmal finde ich eine Lilie genannt.
Statt der Blume dient in andern Sagen eine Wurzel, die Springwurzel , so genannt, weil alle Schlösser vor ihr aufspringen. Wo sie zu finden ist, wo sie wächst, das wissen die Menschen nicht, wohl aber die geisterhaften, weisen Vögel, namentlich der Specht. Darum spündet man, sobald er Junge hat, sein Nest mit einem Keil zu und zwingt ihn so, die Wurzel zu holen. Er bringt sie im Schnabel und hält sie an den Keil, der alsbald, wie vom stärksten Schlag getrieben, herausspringt. Hat man sich nun versteckt und erhebt bei des Spechts Annäherung grossen Lärm, so lässt er die Wurzel fallen; auch breitet man ein weisses oder rothes Tuch unter dem Nest aus, er wirft dann die Wurzel darauf, nachdem er sie gebraucht hat, wie die zur Quelle ziehende Schlangenkönigin ihre Goldkrone auf das hingebreitete weisse Tuch legt.
Ein anderes Mittel, in die Erde entrückte Schätze aufzuspüren und zu erwerben, ist die Wünschelruthe , die Ruthe oder Gerte, durch die man in des Wunsches Besitz kommt, d. i. alles irdischen Heils theilhaftig wird. Die Gabe dieses Heils geht von dem allwaltenden Wuotan aus. Man nimmt dazu einen bei rechtem Mondschein geschnittenen gabelförmigen und dreifach zusammengewundenen jährigen Zweig einer Haselstaude, an dem kein Flecken altes Holz ist und der so steht, dass die auf- und untergehende Sonne durch die Gabel scheint. Sie zu brechen, geht man an einem Neuensonntag Morgens zwischen drei und vier Uhr stillschweigend zu der Staude, kehrt das Angesicht gegen Morgen, neigt sich dreimal vor der Ruthe und spricht: ›Gott segne dich edles Reis und Sommerzweig!‹ Darauf wird sie unter bestimmten Beschwörungen abgeschnitten und zwar meistens mit einem Schnitt, sonst taugt sie nicht. Beim Gebrauch wird sie mit beiden Enden gehalten, so dass der Stiel sich aufwärts kehrt; dann schlägt sie an, der Stiel dreht sich nach den Gegenständen, die sie anzeigen soll, bleibt ruhig, wenn keine vorhanden sind.
Zauber. 107
›Wundern d. i. Wunder thun heisst übernatürliche Kräfte heilsam, zaubern sie schädlich oder unbefugt wirken lassen, das Wunder ist göttlich, der Zauber teuflisch; erst den gesunkenen, verachteten Göttern hat man Zauberei zugeschrieben. Mittelwesen zwischen ihnen und Menschen, vielkundige Riesen, listige Elbe und Zwerge zaubern, nur scheint ihre Fertigkeit mehr angeboren, stillstehend, keine errungene Kunst. Der Mensch kann heilen oder vergiften, indem er natürliche Kräfte zum Guten oder Bösen anwendet; er wird zuweilen der Wundergabe theilhaftig, wenn er aber den heilbringenden Gebrauch seiner Kräfte zum unnatürlichen steigert, lernt er zaubern. Wunder geht mit rechten, Zauber mit unrechten Dingen zu, jenes ist geheuer, dieses ungeheuer. Unmittelbar aus den heiligsten, das gesammte Wissen des Heidenthums in sich begreifenden Geschäften, Gottesdienst und Dichtkunst, muss zugleich aller Zauberei Ursprung geleitet werden. Opfern und singen tritt über in die Vorstellung von zaubern: Priester und Dichter, Vertraute der Götter und göttlicher Eingebung theilhaft, grenzen an Weissager und Zauberer. So bei allen Völkern, auch bei unsern Vorfahren: neben dem Göttercultus standen Uebungen finsterer Zauberei, jedoch nur als Ausnahme, nicht als Gegensatz.‹
Der Zauber wurde im Alterthum ebensowohl von Männern, wie von Frauen geübt, vorzugsweise jedoch den letztern zugeschrieben, die wir auch bereits im Besitz der Weissagung und anderer göttlicher Gaben erkannten. Daher, dass die Hexerei, d. i. die alte Zauberkunst meist von Frauen geübt wurde; Männer werden nur selten hineingezogen. Es liegt in ihr etwas Heimliches, Stilles, Abgeschlossenes, was sich mit dem
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