Die Diagnose: Thriller (German Edition)
allen Eigenschaften war Harrys Fähigkeit einzuschüchtern die eindrucksvollste. Selbst in diesem Zustand hatte ich keine Lust, mich mit ihm anzulegen. Er war kräftig gebaut und gut in Form, als hätte nervöse Energie sämtliches überflüssiges Fett verbrannt. Seine Augen saßen tief in einem schmalen Gesicht mit schräger Stirn und Adlernase. Er sah aus wie ein römischer Zenturio, Anführer einer gnadenlosen Legion, die sich gerade durch Gallien gekämpft hatte, ohne Gefangene zu machen.
»Was für ein Blödsinn«, murmelte er. »Ich bin nicht verrückt.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber wir haben Regeln, die dem Schutz aller dienen. Sie sind am Flughafen doch sicher auch schon durch die Sicherheitskontrolle, oder? Sie wollen doch bestimmt nicht der eine sein, der Terz macht.«
Das sagte ich immer, und die Analogie war gar nicht schlecht – genau wie am Flughafen waren wir immer auf der Hut vor versteckten Waffen. Harry war lange nicht auf dem Flughafen LaGuardia gewesen, wie ich später herausfand, aber es funktionierte. Er sah mich ein paar Sekunden lang an, bevor er nickte.
»Okay, bringen wir es hinter uns«, knurrte er.
»Gut. Mr O’Meara nimmt Ihre Sachen und besorgt Ihnen einen Kittel, und ich bitte die Krankenschwester, Ihnen Blut abzunehmen. Dann komme ich wieder.«
Im Arztzimmer war Maisie mit Harrys Krankenakte beschäftigt, die der Computer gerade ausgespuckt hatte. Alle Patienten bekamen den Blutdruck gemessen, und ihre Krankenversicherung wurde überprüft, bevor sie zu uns durchgelassen wurden.
»Ich glaube nicht, dass er Probleme hat, den Scheck zu bezahlen«, sagte sie.
»Fragen Sie für alle Fälle mal nach, ob im Four Seasons ein Zimmer frei ist.«
Das war unser Spitzname für York Ost, eine Station mit sechs Betten im dreizehnten Stock, die Luxusvariante von Zwölf Süd für die, die bereit waren, zusätzlich zur Krankenversicherung noch 700 Dollar für mehr Annehmlichkeiten zu berappen. Das Essen war besser, und sie bekamen ein Einzelzimmer mit eigenem Bad; die Türen allerdings waren genauso fest verschlossen wie anderswo, damit sie sich nicht einfach davonmachten. Es erinnerte mehr an ein Hotel, aber auschecken war nicht möglich.
»Wer war das am Telefon?«, fragte ich.
»Sarah Duncan. Mrs Shapiro hat sie angerufen, bevor sie hergekommen sind. Sie wollte wissen, wie der Stand der Dinge ist. Ich habe ihr gesagt, Sie hätten alles unter Kontrolle.«
Sarah Duncan war die Verwaltungsdirektorin des Krankenhauses, eine Chicagoerin mit grauem Haar, die ihre forsche Art zur Führungskunst erhoben hatte. Ich rief mir in Erinnerung, dass Nora Shapiro im Verwaltungsrat des Episcopal saß, was die Sache weiter verkomplizierte, denn es hieß, dass Duncans Karriere in ihren Händen lag. Ein Blick in Harrys Krankenblatt verriet mir, dass er achtundfünfzig war und schon im Episcopal behandelt worden war, aber nur für Routineuntersuchungen wie etwa Koloskopie. Sein Blutdruck war ein wenig hoch, und er nahm einen Cholesterinsenker, doch abgesehen davon, war er bei guter Gesundheit.
Als ich zurück in Zimmer vier kam, saß Harry immer noch auf der Liege, doch jetzt in einem Krankenhauskittel, und eine Krankenschwester rollte gerade den Behandlungswagen raus, nachdem sie ihm Blut abgenommen hatte.
»So«, sagte er. »Dr. Cooper, richtig?«
»Ja. Es schreibt sich ›Cow-per‹, aber das ›W‹ ist stimmlos«, sagte ich und kam mir so dämlich vor wie immer, wenn ich meinen Namen erklären musste.
»Ein ausgefallener britischer Name?«, bemerkte er leicht eingeschnappt.
»Vielleicht könnten Sie mir erklären, warum Sie hier sind?«, sagte ich.
Harry überlegte einen Augenblick und senkte den Kopf. Er wirkte matt und sprach langsam, beides Symptome einer Depression. Ich bekam schon langsam ein Gefühl dafür, was in seinem Kopf vor sich ging. Es sah aus wie eine männliche Midlife-Crisis von der Art, mit der wir es tagein, tagaus zu tun hatten. Ich musste herausfinden, was unter der Oberfläche lag, aber ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Er litt vermutlich unter größeren psychischen Qualen als je zuvor in seinem Leben, doch es würde vorübergehen.
»Mir geht’s nicht besonders«, sagte er niedergeschlagen. »Die letzte Zeit war hart. Ich habe meinen Job verloren.«
Er starrte in den Flur hinaus, und ich wartete ab, ob er noch mehr sagen wollte, doch er schwieg. Er verriet mir nicht mehr, als er musste, was es mir erschwerte, seinen Zustand genauer einzugrenzen. Ich
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